Kapitel 6: Der Besucher

Wolfgang Rauh

von Wolfgang Rauh

Story

Es ist dunkel, als ich glaube, meine Augen zu öffnen, aber es gibt keine Garantie dafür, dass ich das auch tatsächlich tue. Vielleicht träume ich. Vielleicht ist das die andere Seite. Endloses Nichts.

Einen kurzen Moment lang bestimmt diese Unsicherheit meine Gedanken, dann höre ich schnaubendes Atmen. Direkt neben mir. An meinem Ohr. Warmer Wind, der mir gegen die Wange weht, feucht und widerlich. Ich zucke zusammen, weil die Eindrücke zu deutlich für einen Traum sind. Im Affekt schlage ich mit der Hand in die Richtung, Szenarien spulen sich zu schnell in meinem noch halb schlafenden Verstand ab, als das eines davon hängen bleiben könnte.

Ich treffe Fell, keine Haut. Eine feuchte Schnauze, ein schwerer Kopf, die Ahnung von Zähnen. Dann brüllender Protest, der mir wie vibrierendes Eis durch die Knochen fährt und mich zur Seite kippen lässt, bevor etwas hinter mir den Baumstamm trifft und sich ins Holz gräbt. Ich muss an eine Axt denken. Ich muss an die Leute denken, die Interesse an den weißen Päckchen zwischen den Bäumen haben. Aber es sind keine Drogendealer und es ist keine Axt.

Ich zerre mich weg, verliere die Tasche und ignoriere die Schmerzen. Hinter mir wieder Gebrüll, mein inneres Auge zeigt mir ein Monster, obwohl ich weiß, dass das kein Monster ist. Nur ein Bär, und dieses ‚nur‘ ist der eigentliche Witz an dieser Argumentation, denn egal wie sehr mein aufgeheizter Verstand ihn aufbläht – seine tatsächliche Größe und Kraft reichen aus für alles, was er mir antun könnte. Das ist seine Welt, nicht meine. Ich bin nur ein unterlegener Eindringling, der hier nichts verloren hat, eine vermutete Beute, die sich als weniger tot herausgestellt hat als im ersten Moment angenommen.

Er kommt mir nach. Ich höre wie sein Gewicht sich in der Dunkelheit über den Waldboden bewegt, höre knackende Äste und raschelndes Laub und frage mich, wie er mir überhaupt so nahe hat kommen können. Aber natürlich habe ich geschlafen. Natürlich war mein Bewusstsein weit weg.

Da gibt es einen kurzen Moment, in dem ich zu erkennen glaube, dass das alles ein Traum ist. Dann spüre ich den Luftzug, mit dem eine seiner Pranken mein Gesicht verfehlt und weiß, dass ich mir den Luxus dieser Illusion nicht erlauben kann.

© Wolfgang Rauh 2025-02-12

Genres
Spannung & Horror