von Giulia Lienemann
Als ich auf den großen Hangar trete, schlägt mir die warme sizilianische Luft entgegen. Ich schließe die Augen und lasse die Sonne mein Gesicht erwärmen. Doch dieses angenehme Gefühl von zu Hause hält nicht lange an. Ein Schatten schiebt sich vor die Sonne, oder eher vor mein Gesicht.
Schnell öffne ich die Augen und fasse mir nervös ans Schlüsselbein. 725 steht da. Wie ein Barcode. Ich hasse es, aber es hat eine beruhigende Wirkung auf mich.
Vor mir steht eine junge Frau. Ganz in schwarz, so wie alle Wächter und Mentoren hier. Ihr blondes Haar ist streng nach hinten gebunden. „Du bist 725, richtig?“, fragt sie trocken.
„Nyra, Ma’me.“, brumme ich leise. „Wie war das?“, schnalzt sie mit der Zunge. „Ja, ich bin 725, Ma’me.“, antworte ich hastig. Sie nickt streng und mustert mich von oben bis unten. „Ich bin Selene. Ich bereite dich auf deinen Auftrag vor. Mach mir ja keinen Ärger, Fräulein. Ich behalte dich im Auge, 725.“
Selene dreht sich um und läuft über den Hangar. Ich folge ihr schweigend. Sie muss neu sein. Ich hab sie hier noch nie gesehen und ich hab hier schon jeden gesehen. Außer die Maske natürlich. Ihn sieht man nie. Man hört ihn nur. Ich hasse ihn. Vor einem kleinen schwarzen Jet bleibt Selene stehen und nickt mir zu.
„Das ist der Jet, mit dem du nach Brasilien fliegen wirst. Drinnen findest du deinen Schattenanzug und alle wichtigen Informationen über deine Zielperson. Klamotten zu besonderen Anlässen wird dir die Zielperson organisieren. Steig ein, 725.“, befehlt sie streng. Ich gehorche, wie immer. Auch wenn sich alles in mir sträubt.
Ich bin Nyra. Nyra Ferrino. Ich bin eine Schwester und keine Nummer. Im Jet setze ich mich in einen Sessel und öffne die Akte über Pablo González. Meine Zielperson.
Der Jet erhebt sich in die Luft und lässt NOX unter sich. Währenddessen tauche ich in Pablo González persönliche Akte ein.
Pablo González, ein Mann in den vierzigern, der ein riesiges Drogenkartell geleitet hat. Seine Drogen wurden über die ganze Welt verkauft. Aber warum will NOX ihn jetzt tot sehen?
Ich blättere weiter durch seine Akte. Er war einer der wichtigsten Partner von NOX. Laut ihnen hat er sich sein Vermögen nicht nur mit Drogen verdient, sondern durch Organhandel, Entführungen und Auftragsmorde. Das volle Programm.
Die Akte ist dick und voll von Bildern und Transkripten von aufgezeichneten Gesprächen.
Doch das alles wirkt irgendwie zu perfekt. Ein Satz springt mir direkt ins Auge.“Zielperson hat vor zehn Jahren Tochter verloren. Angebliche Entführung. Bis heute unaufgeklärt. Vermutlich Rivalenkonflikt. Zielperson zeigt immer noch emotionale Bindung zu vermisster Tochter.“
Ich starre auf das Bild eines kleinen Babys. Die Bildunterschrift sagt: „Isabel González. Sechs Monate alt. Kurz vor Verschwinden.“
© Giulia Lienemann 2025-05-30