Kapitel 9

Jelena Zerbst

von Jelena Zerbst

Story

Ich träumte von einem Schiffbruch auf hoher See, schlagenden Wellen, Salzwasser getränkten Lungen, Feuer an meinem Rücken. Ich ertrank und verbrannte und ich verdurstete. Ein Holzpfahl landete in meiner Magengrube…
Er zog mich fest an sich, das Schaukeln war der dunkle Hengst unter mir, ich ließ mich erschöpft nach hinten fallen und wurde von einer warmen Brust aufgefangen. »Wo sind wir?« Meine Wahrnehmung sagte mir, dass wir längst vom Weg abgekommen waren. Weit am Horizont erkannte ich Berge über den Baumkronen des Waldes. »Die Nordwende?« Ich drehte mich mit leerem Kopf um, alles an und in mir verkrampfte sich. Er hatte gelogen. Er wollte mich nicht unversehrt belassen. »Beweg dich nicht so viel. Änderung des Plans. Wenn ein Mädchen wie du den Willen zur Flucht hat, warum stecke ich in den Fängen des Königs? Wohin auch immer du gehst, unsere Wege trennen sich bald.« Im Gegensatz zu mir wirkte er vollends gelassen. Beinahe gelöst. Ich schluckte schwer, meine Kehle war staubtrocken. Das Pferd lief im langsamen Schritt einen Trampelpfad des Waldes entlang und schnaubte vor sich hin. »Wohin willst du?« Nicht, dass ich eine ehrliche Antwort erwartet hätte, ich war nur viel zu überrumpelt von seinem Sinneswandel für kluge Fragen. »Keine dummen Fragen«, bestätigte er meinen Gedanken. Ich biss mir auf die Lippe. »Du hast mich verschleppt, kannst du meine Fragen nicht verstehen?« Er kehrte mit dem Pferd in den dichten Wald ein und ritt eine Zeit lang im Schritt, bis wir zum Stehen kamen. »Das verstehe ich sehr gut. Ich beantworte Fragen nur nicht gerne mehrfach. Oder habe ich dir Stunden zuvor nicht mitgeteilt, dass dir nichts zustoßen wird?« Ich strich meine Haare aus dem Gesicht. »Nachdem ich fast unter einem Kartoffelsack erstickt wäre. Sehr glaubwürdig.« Meine Muskeln machten sich schmerzlich bemerkbar, als er mich achtlos auf dem Riesen sitzen ließ und sich daran machte, ein Feuer zu bereiten. Ich war zu stolz. Meine Beine waren zu kurz, um in die Steigbügel zu gelangen, also glitt ich langsam und krampfig vom Pferd, verlor unter dem Bauch das Gleichgewicht und landete mit dem Rücken auf dem Boden. Der Hengst peitschte mir seinen Schweif ins Gesicht und begann zu grasen, ein Huf landete beinahe auf meinem Fuß. »Wie heißt dein Trampeltier?«, fragte ich. »Ohnegnade«, antwortete der Mann, dessen Name ich erst recht nicht kannte. Oder… doch? Meine Augen weiteten sich. »Bist du Sir Ohnegnade? Der Name, der dir vorauseilt, du bist der Scharfrichter des Königs?« Er erwiderte nichts, was einer Bestätigung gleichkam. Himmel, ich schwebte zwischen Leben und Tod. Er warf mir kommentarlos einen Beutel zu, in dem Wasser plätscherte.
»Iss, bevor du alleine hier klarkommen musst. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie man ohne Bedienstete überlebt?« Er hielt mir gebratene Taube hin. Ich nahm das Fleisch und aß. In Wahrheit schlotterten mir die Knie. Im Kloster wurde ich nicht bedient, was aber nicht hieß, dass ich in der Wildnis überlebte. Das musste er nicht wissen. »Ich glaube nicht, du würdest als Erstes verdursten.« Ich folgte seinem Blick. Er fing Regenwasser in einem Trinkbeutel auf. Daran hätte ich nicht gedacht. Entdeckte ich ein Schmunzeln? »Also, wohin willst du?« Er aß die Taube bis auf den letzten Knochen auf. Ich konnte den Anblick einiges Blutes in meinen Händen kaum ertragen. »Nach Aynacha.« Er hielt Inne. Aynacha war schließlich nicht der nächste Ort. Es war der südliche Kontinent.

© Jelena Zerbst 2023-08-04

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich