von Annegret Hahn
Die alte Frau war nach ihrer Flucht aus Riga in das kleine Haus mit ihren beiden Söhnen und ihrer Tochter eingezogen. Ihr Mann war im Krieg geblieben. Das Haus hatte sie von dem Wohnungsamt zugewiesen bekommen. Flüchtlinge wurden nach dem Krieg in leerstehenden Häusern oder in Zimmern von Mietswohnungen untergebracht. Als die größte Wohnungsnot vorbei war, bekam jede Familie ihre eigene Wohnung. Die Familie aus Riga war mit Pferd und Wagen geflohen. So hatten sie das Häuschen außerhalb der Stadt auf dem Dorf zugewiesen bekommen. Das Dorf war 9 km von der Stadt entfernt. Inzwischen war die Stadt mit der dörflichen Umgebung zusammengewachsen. Die Außenbezirkte wurden eingemeindet, die Dörfer wurden zu Stadtteilen. Das kleine Haus ist in die Jahre gekommen. Aber für die Frau aus Riga und ihren ältesten Sohn bietet es genügend Platz. Beide haben Freude an dem großen schwarzen Hund. Er erinnert sie an Riga. Dort hatten sie eine Landwirtschaft mit einem Haus und einem Garten. Es gab immer einen Hund, der vor dem Haus wachte und Besuch anmeldete. Die Familie war sehr freundlich. Aber die Bewohner der benachbarten Siedlung mieden sie. Die Siedlung war in der Zeit des Wirtschaftswunders entstanden. Sie war für die Familien gedacht, deren Väter in der Forschungsanstalt neben dem Wald arbeiteten. Die Familie aus Riga kam dagegen aus einfachen Verhältnissen. Der älteste Sohn der Frau war zwar sauber und ordentlich, sein wilder Bart, seine Arbeitskleidung und der große Hut waren den Leuten jedoch nicht geheuer. Das kleine Mädchen grüßt die Familie freundlich. Sie grüßt jeden, den sie trifft. Dies hatte das kleine Mädchen von seiner Oma gelernt. Die Oma ist in der ganzen Innenstadt bekannt und beliebt. Sie kennt jeden und grüßt immer. In der Kriegszeit war der Opa des kleinen Mädchens nicht eingezogen worden. Er war der Vater der Mutter des kleinen Mädchens. Der Opa war Klempnermeister gewesen und reparierte sämtliche Rohrleitungen in der Stadt, wenn diese defekt waren oder durch Bomben zerstört wurden. Die Leute waren dankbar, dass wenigstens ein kundiger Handwerker nicht eingezogen war. Offizieller Grund dafür war, dass der Opa des kleinen Mädchens einen Leistenbruch hatte. Im Krieg wurden Zivilisten nicht operiert. Die Frau aus Riga hatte gesehen, wie das kleine Mädchen den großen Hund von ihrer Schwester ablenkte. Sie kam mit dem Hund gut zurecht. Die Frau lädt das kleine Mädchen in ihr Haus ein und serviert ihr eine Tasse Kakao. Sie erzählt dem kleinen Mädchen ihre gesamte Lebensgeschichte. „Du wunderst Dich vielleicht“, meint sie, „dass mein Sohn nichg arbeitet. Bis zum Krieg hat er viel gearbeitet. Er hat alle Arbeiten in unserer kleinen Landwirtschaft ausgeführt. Dann mussten wir fliehen. Mein Mann war eingezogen, und ich hatte keine Nachricht mehr von ihm erhalten. Mein Sohn war erst 14 Jahre alt. Aber er war der älteste Sohn in der Familie. Er hat uns 1944 mit Pferd und Wagen von Riga aus erst nach Memel gebracht, und dann sind wir über das kurische Haff bis nach Deutschland gekommen. In Deutschland sind wir dann bis hier in die große Stadt gezogen. Wir haben uns in diesem Dorf niedergelassen. Seitdem wohnen wir hier. Mein Sohn hat die gesamte Flucht geplant und durchgeführt. Danach ist er zusammengebrochen und nie wieder richtig auf die Beine gekommen.“
© Annegret Hahn 2025-02-21