Kapitel 9: Vermisst

Wolfgang Rauh

von Wolfgang Rauh

Story

Vor einer Woche wurde ein junger Wanderer als vermisst gemeldet, was für das direkte Umfeld belastend, in einem weiteren aber nicht überraschend ist. Dieser Flecken Natur ist zu weitläufig und fordernd, und zu viele von uns sind zu Hobby-Abenteurern geworden, die dafür nicht ausgerüstet sind – weder in Bezug auf Erfahrung, noch Ausrüstung. Ich nehme mich davon nicht aus. Der Reptilienteil meines Gehirns lässt noch nicht zu, dass der zivilisierte Schreibtischteil das einsieht, aber was ich hier draußen mache, ist ein Kampf ums Überleben, und mit jeder Stunde, die dieser länger dauert, sinken meine Chancen.

Der Wanderer, ein junger Kerl, der gern draußen unterwegs ist und gerne Bilder davon postet, ist nicht unerfahren und hat das nicht zum ersten Mal gemacht. Aber er war mit einem Kanu auf einem der breiten Flüsse am Festland unterwegs und es gab Augenzeugen, die sahen, wie der in den Regengüssen der letzten Tage angeschwollene Fluss ihn ins Meer gespien hat. Viele haben gesucht, niemand hat etwas gefunden – kein Boot, keine Leiche, keinen Hinweis auf sein Verbleiben.

Ich kenne ihn nicht. Ich kenne seine Familie nicht. Mein persönlicher Bezug zu ihm beschränkt sich auf Neugierde, auf den Jagdinstinkt meiner journalistischen Natur. Beschämend, ich weiß. Aber nur, wenn man es nicht selber kennt. Ich bin hier draußen, weil ich nach dem Kribbeln von früher suche. Und das Kribbeln ist zum Brennen geworden.

Zu versuchen, ins Tal hinunter zu gelangen, macht keinen Sinn. Ich muss auf die andere Seite, zum Ozean, wo ich mich bemerkbar machen kann, sobald ich sicher bin, dass das meine Situation nicht verschlechtert. Ins Freie, wo ich gefunden werden kann, nicht tiefer ins Dickicht. Ich will nicht zurück nach oben, nicht zum Flugzeug und dem toten Kurier und nicht zum Bären, falls dieser noch dort ist.

Also gehe ich weiter, den Hang immer auf der einen Seite behaltend, das Tal auf der anderen. Idealerweise komme ich so zu einem Punkt, an dem der kleine Berg, auf dem wir abgestürzt sind, passierbar wird. Keinen Moment lang stellt sich mir die Frage, ob sich dahinter tatsächlich der Ozean befindet.

© Wolfgang Rauh 2025-02-12

Genres
Spannung & Horror