Karfreitag – Good Friday

Wittkopp

von Wittkopp

Story
2022

4:40 Uhr. Ich werde von den ersten, zarten Rufen einer Amsel geweckt. Nun, wo die Nächte nicht mehr ganz so kalt sind, habe ich am Vorabend das Fenster einen Spalt weit geöffnet. Ich hatte Sehnsucht nach dem frühen Rufen meiner gefiederten Freunde. Allerdings hat mich die Müdigkeit noch mal übermannt und ich bin erneut eingeschlafen. Genau eine Stunde später wurde es draußen deutlich lauter. Mittlerweile hat sich in unserem Garten ein ganzer Chor versammelt: „Tiwitt, Tiwitt! Steh auf, steh auf!“ Heute ist Karfreitag. Die Vögel singen trotzdem. Gott sei Dank. Ich genieße die Stille und Ruhe. Keine lärmenden Autos. Keine Rasenmäher.

Ich denke zurück, als ich als kleines Mädchen am Grünen Donnerstag mit meinem Vater in die Bückeburger Fischhalle gefahren bin. Dort gab es leckereren, frischen Fisch zu kaufen! Das war viele Jahre etwas Besonderes für mich. Den Fisch hat meine Mutter am Karfreitag in unserer gemütlichen Küche zubereitet. Ich sehe sie noch am Herd stehen, schick gekleidet in Kittelschürze und mit Dauerwelle im Haar. Für uns Kinder war es beim Essen am spannendsten zu zählen, wer die meisten Gräten im Fisch hatte. Nach dem Essen haben wir einen Jesusfilm angeschaut. Mich haben die schönen Kulissen, die Kostüme und die Landschaft des nahen Ostens fasziniert. Bei der Kreuzigungsszene habe ich mir immer eine Decke vor mein Gesicht gehalten. Das mache ich heute beim Tatort übrigens immer noch. Ich kann mir einfach nicht anschauen, zu was die Menschen fähig sind.

Ohne Karfreitag gäbe es heute keinen Feiertag. Wenn ich einer gestrigen Zeitungsnotiz glauben schenke, sind wir jedoch an einem Scheidepunkt. Dort war zu lesen, dass dieses Jahr erstmals seit Jahrhunderten, Ostern in einem mehrheitlich nicht mehr kirchlich gebundenen Deutschland stattfindet. Haben die Menschen tatsächlich den Glauben an Gott verloren? Ich bin mir da nicht sicher. Vielleicht sind einerseits die Enttäuschungen die Menschen innerhalb eines Glaubenssystems miteinander gemacht haben dafür verantwortlich und andererseits die mangelnde Erfahrung einer wirklichen Begegnung mit Gott. Diese kann nicht erzwungen werden. Man muss es wollen. Viele Menschen wollen es eben nicht. Sie verlassen sich heutzutage lieber auf sich selbst. Sie wollen keinen Geboten folgen, weil sie diese falsch oder im schlimmsten Fall als Verbote verstehen. Mein Papa hat früher oft gesagt, glauben heißt nicht wissen. Das stimmt. Glauben heißt für mich Vertrauen. Glauben, dass jemand über mir wacht, der es gut mit mir meint. Und das auch, wenn nicht alles gut ist. Vertrauen – dieses schwerste ABC – wie es die jüdische Lyrikerin Hilde Domin beschreibt, das steht auf meiner „to do Liste“. Immer wieder neu und Trotz Alledem!

10:50 Uhr. Die Kirchenglocken läuten. Ihr Klang ist am Karfreitag ein anderer.

© Wittkopp 2022-04-15

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