von Eva Filice
Im satten Grün der fingerförmigen Blätter eingebettet strahlen sie frühlingserstarkt und drängen sich auffallend in den Vordergrund. Jahr für Jahr das gleiche Spiel. Aufrecht stehen die weißen Kerzen, wie die Blüten genannt werden, und locken mit ihrer eleganten Erscheinung nicht nur die Bienen an. Zarte gelbe Flecken im Inneren der Blüten ziehen die Bestäuber an. Der Fleck färbt sich danach rot und weist die Zuspätkommenden darauf hin, dass hier nichts mehr zu holen ist. Die Natur sendet eindeutige und wunderbare Signale.
Jedes Jahr kann ich die Blüte der Kastanien kaum erwarten. Von meiner Wohnung im 3. Stock aus beobachte ich mit Freude und Spannung die drei Kastanienbäume im Nachbargarten, die mich Anfang April erst mit ihrem Grün und später mit ihrem immer größer werdenden weißen Schmuck erfreuen.
Den Zauber der farblichen Verwandlung im Inneren der Blüte entdeckte ich, als ich mich zwei Wochen lang zur Behandlung meiner Wirbelsäule im Krankenhaus befand. Vom Aufenthaltsraum im 1. Stock führt eine Terrasse ins Freie, direkt zu den Baumkronen. Dort verweilte ich des Öfteren und erfreute mich am Blühen und an der tastbaren Nähe der wunderschönen Kerzen. Mir erschienen die Veränderungen im Laufe der zwei Wochen wie im Zeitraffer. Ich wünschte, ich könnte die strahlenden Kerzen in ihrem Wachstum hemmen. So bemerkte ich eines Tages bereits kleine grüne Kügelchen und in Anwesenheit meines Mannes stellte ich leicht betrübt fest: „Jetzt macht sich schon der Herbst bemerkbar.“ Sein verwunderter Blick brachte mich zum Lachen. „Die Zeit vergeht zu schnell, ich möchte den Frühling anhalten!“
Die Gewöhnliche Rosskastanie ist seit dem 16. Jh. in Wien heimisch geworden, erst als Modebaum in den Parks der Adeligen, später als Alleebaum in vielen größeren Parks. Die Prater-Hauptallee, eine 4,4 km lange Allee von Kastanienbäumen in mehreren Reihen ist ein beliebtes Freizeitgebiet der Wiener*innen. „Im Prater blüh´n wieder die Bäume“ besingt ein Wienerlied diese Prachtstraße, die vom heutigen Praterstern bis zum Lusthaus führt.
Immer früher leiden Kastanienbäume unter der „importierten“ Miniermotte. Die Blätter sind schon im August braun und fallen ab, ein trauriger Anblick. Ob das Wienerlied „Du narrischer Kastanienbaum, du blühst erst im August“ von der „Angstblüte“ wusste, die bei stark befallenen Kastanienbäumen zu ungewöhnlicher Zeit auftritt?
Hoffnung geben die Zeichen, die uns der Kastanienbaum im Spätherbst erkennen lässt. Die klebrigen Knospen bereiten sich bereits vor der Winterruhe auf das kommende Frühjahr vor. Die Natur schickt uns viele Zeichen der Hoffnung auf einen Neubeginn, auf ein Blühen und auf eine Farbenpracht. Der Kreislauf der Natur begeistert mich in seiner Vielfalt. Anfang Mai werden wir uns in der Hauptallee an der üppigen Pracht der blühenden Kastanienbäume erfreuen. In meinem Domizil, fast wie in einem Baumhaus, ganz nah dem Kastanienbaum verleihe ich meinen Gedanken Flügel.
© Eva Filice 2021-04-14