von Katharina Stein
Der Tank ist leer – der große Plan, das Entkommen gerät ins Stocken. Kein Durchziehen, Strecke machen, stattdessen ein Stopp an der Tankstelle. Er lässt Lilli auf ihrem Sitz neben sich, während er den Tank füllt. Die Kinderlieder verfolgen ihn zur Tür des kleinen Verkaufsraums.
Ein Junge steht hinter der Kasse und schaut ihm entgegen – blass, picklig, leicht fettige Haare, die Sorte, die zu seiner Zeit ein leichtes Opfer war. Er lächelt, will heute anders sein als damals und versucht, der Euphorie des Aufbruchs nachzuspüren. Sie hat sich im Benzingestank völlig verflüchtigt.
»Bar oder Karte?« Die Langeweile seines Jobs schwingt in den Worten des Pickelgesichts mit. Er schnappt sich ein Mars und einen Energydrink, hat noch nichts gegessen und hofft, sich dadurch wieder aufzuputschen, dann zückt er die Karte, legt sie auf das Gerät, tippt die PIN, alltägliche Handgriffe, doch irgendetwas schreit Fehler.
Er wartet nicht auf den Beleg, will schon nach draußen gehen, da hält ihn die Stimme des Jungen auf. »Sorry, das hat nicht geklappt.«
Bleischwerer Schrecken. Der Monat war knapp, das sind sie alle, aber das kann nicht sein. Es kann nicht sein, es muss funktionieren. Er zwingt sich zum Stehenbleiben, zwingt sich zurück zur Kasse, zwingt sich erneut zu jedem einzelnen Handgriff – Karte nicht akzeptiert.
Der Junge beginnt zu stottern, Entschuldigungen, Unsicherheiten. »Haben Sie denn nicht vielleicht Bargeld dabei?« und »Ich mach das auch noch nicht lange« und »Sorry, ich suche kurz die Anleitung« – nervöses Kramen unterm Tisch, nervöse Worte, um die Stille zu füllen, nervös, nervös, nervös.
Er spürt den Schrei in sich pulsieren, spürt ihn wie einen zweiten Herzschlag, spürt ihn wachsen und nach oben drängen, in seinen Kopf, in seine Hände, bis nichts mehr übrig ist von ihm, von der Trauer, von der Angst.
Dann schlägt er zu. Der Junge ist gerade mit einem Ordner voll zerfledderter Papiere wieder auf die Füße gekommen, hat nicht mit dem Angriff gerechnet. Das Pickelgesicht taumelt rückwärts gegen die Zigarettenwand und er nutzt die Gelegenheit – die Tankstelle ist alt, nicht abgesichert für so etwas. In Sekunden ist er über den Tresen und Schläge und Tritte und Flüche prasseln auf den Jungen ein, der winselnd auf dem Boden liegt.
Was musste er ihn auch stoppen, nun endlich, wo er sich lösen konnte von diesem verschissenen Leben? Warum konnte er ihn nicht einfach gehen lassen?
Der Rausch hält nur wenige Minuten an. Draußen begrüßen ihn Kinderlieder und Lilli auf dem Rücksitz, die ihm glücklich »Papa!« entgegenruft, als er die Autotür hinter sich zuwirft. Theo stottert, länger diesmal, aber er springt an, Flucht, weg, nur weg.
Sie fahren, egal wohin, Hauptsache Richtung Autobahn. Seine Hände sind klebrig, von Schweiß, von Blut, er wagt nicht hinzusehen. Ein Zittern erfasst ihn, plötzlich und unwillkürlich, doch das Fahren gibt ihm Halt. Im Radio singt Rolf Zuckowski vom Reisen.
© Katharina Stein 2022-08-26