von Iris Uiberrak
JAPAN, TOKIO
9:21. Ich hetze mit meinem Koffer über die Bahnsteige. Hoffentlich erreiche ich noch rechtzeitig den Zug. BAHNSTEIG 3. Endlich. Ich sprinte. Zerre meine Koffer über die sperrigen Stiegen, schlichte ihn zwischen den anderen ein und lasse mich erleichtert auf die gepolsterte Bank fallen. Sofort schließen sich die Türen mit einem Ruck und der Zug setzt sich in Bewegung. Ich mache es mir bequem und blicke gedankenverloren durchs Fenster nach draußen. Ein sonores: „Ist hier noch frei?“, reißt mich aus meinen Gedanken. Ein sehr attraktiver, junger Mann steht vor mir. „Klar“, meine ich, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Er lässt sich mir gegenüber nieder und beginnt einfach, zu reden. Innerhalb von Minutensprechen wir über unsere Träume und darüber, was der Sinn des Lebens ist. Ich betrachte ihn und wie er gestikuliert. Mir fällt sein Parfum auf und die leichten Sommersprossen auf seinen Handrücken.
Ich begutachte seine Oberarme, die kaum in sein T-Shirt passen. Mir fällt der Klang seines Lachens auf, der unglaublich vertraut klingt, auch wenn ich ihn noch nie gehört habe. Ich höre zu und spüre keine Nervosität, sondern Ruhe. Ruhe, die man verspürt, wenn man zu Hause ist, wenn man in seinem gewohnten Zimmer schläft, wenn man sein Lieblingsgericht isst und weiß, dass es fantastisch schmecken wird. Ruhe die einen ummantelt, wenn man mit seiner engen Familie, seinen Freunden beisammen ist und sich keine Gedanken darüber machen muss, was man sagt, sondern einfach spricht, was einem in den Sinn kommt. Ein Gefühl von ungewöhnlichem Vertrauen. Ein Vertrauen, welches normal nicht für Fremde bestimmt ist. Ein Vertrauen, das sich aber komischerweise trotzdem sehr richtig und natürlich anfühlt. Ein nie gefühltes Gefühl, dennoch selbstverständlich. So fühle ich mich mit ihm und dass bereits ein paar Minuten, nachdem wir uns kennengelernt hatten.
Die Gleise knirschen und die Stimmen der anderen Menschen im Zug versuchen sich gegenseitig zu übertrumpfen, überschlagen sich und es ist sehr laut. Jedoch höre ich gar nichts. Alles erklingt, wie durch Watte. Wir befinden uns in unserem eigenen Wattebausch, wo sich nur sehr schwierig etwas den Weg hinein bahnt. Ich höre nur ihn, er hört nur mich. Wir lachen, wir philosophieren und wir hören einander zu. Es ist eines der besten Gespräche, die ich jemals geführt habe. Ich fühle mich verstanden und ich verstehe. Uhrzeiger drehen sich, aber für mich steht die Zeit still. Als ich mich doch für eine Sekunde aus unserem Wattebausch heraus begebe, merke ich, dass die Leute um uns herum schlafen und es draußen längst Nacht ist. Die Menschen reden nicht mehr, ihre Stimmen überschlagen sich nicht mehr. Man hört nur noch die Gleise und die Geräusche des Zuges.
Ich will zurück in den Wattebausch und trete wieder ein. Wir sprechen miteinander, bis es draußen wieder hell ist, bis wir in den frühen Morgenstunden doch die Augen schließen und gemeinsam weiter träumen.
© Iris Uiberrak 2022-08-30