Kennen lernen

Paul Kilian

von Paul Kilian

Story

Ihre Augen sind braun und groß wie Kastanien. Ihr Gesicht rund und die Haare mit schwarzen Nadeln streng in die Höhe gesteckt. Vor ihm steht ein Weinglas, dessen Wein rot und saftig, färbt seine Lippen während er kleine Schlücke trinkt. Er liest ein, zwei Zeilen, schaut kurz vom Buch auf zu ihr herüber. Er kann nur zu ihr schauen. Sie sitzt auch alleine und liest. Sie trinkt einen Kaffee und sie sagt, als er sie anspricht, sie würde gerne so schnell wie möglich in den Süden, billig leben und vor dem Winter flüchten. Tamina sagt, was sie meint, sie trägt viele Ringe und Schmuck, Gold, nie Silber und findet es befreiend, mit allen Menschen so zu reden, als würde sie, diese ihr leben lange kennen. Auch wenn der Jüngling nervös ist und sich nicht ganz entspannen kann, mag er ihr Gespräch mehr als die meisten anderen, die er so hat. Sie schaut ihn dauernd an. Er weiß nicht, warum. Die Zeit vergeht, die Lichterkette scheinen nun wunderschön über ihnen. Sie reden und manchmal, wenn kurz stille ist, liest sie ein wenig weiter, ihr Finger bewegt sich entlang der Zeilen als gebe es keine Eile. Er holt seinen Zeichenblock heraus und malt mit Kreide Rot und Grün. Währenddessen sprechen sie mit einer Leichtigkeit und so als hätten sie Wochen lang noch Gesprächsstoff miteinander. „Es gibt eine gewisse Art von Freiheit, die ich Angst habe, bald für immer zu verlieren. Bist du mal am Meer für mehrere Tage gesegelt? Bist du aufgestanden und hast nur blau gesehen.“ „Nein, das war noch nie so. Ich habe mal eine Tour durch die Berge gemacht. Für mehrere Tage habe ich nur schöne oder beeindruckende Natur gesehen, Berggipfel, Almen und Schluchten. Das schönste war, als ich an einem der letzten Tage mir, in der Früh, im Sonnenaufgang die Zähne geputzt habe und es mir fast nicht aufgefallen wäre, wie schön das war. Die leere Stille und die frische Luft und ein Berggipfel Rosa vom Licht der aufgehenden Sonne. Ich glaube, diese Schönheit würde mir auch nach 20 Jahren jeden Tag gefallen. Vielleicht ist das ein wahres Freiheitsgefühl. Unvergängliche Schönheit.“ „Das Buch, das ich gerade lese. Da geht es um eine Frau aus Amerika. Sie führt ein bürgerliches Leben mit Haus, Hund, Mann und lieben Kindern. Sie verlässt dieses Leben. Es wird deutlich gemacht, dass es dafür nicht wirklich einen Grund gibt. Sie lernt auf Reisen Südost Asien kennen und auch wenn sie schon ein wenig älter ist, hält sie mit den jugendlichen Backpackern mit. Ich hab zuerst gedacht, darum gehts! Nach kurzen Begegnungen wird, wem als Leser klar, dass es ein Ziel gibt. Ein Abstraktes existentialistisches. Sie ist auf der Suche nach einem Ort. Der sie wie aus der Ferne gespenstisch anzieht. Sie hört auf zu reden, sie wird schmal und muskulös und immer fähiger zu überleben. Man wartet eine Zeit darauf, ob es etwas Bestimmtes ist, das sie sucht. Und dann auf einer Wanderung findet sie es. Verlässt ihre Reisegruppe und kämpft sich durch das Dickicht, bis sie an einem wunderschönen Wasserfall ankommt. Sie hackt die Bäume um und baut sich mit ihrer neuen Kraft eine kleine Hütte. Sie legt sich ins Gras, das sie anfängt zu umschlingen, wie die Bänder einer Mumie. Sie schläft wochenlang und als sie aufwacht, hat sie blutende Narben an Armen und Beinen. Ruhe kann sie nicht finden. Auch ihre Orientierung verliert sie. Sie ist sich ganz sicher, dass sie etwas verloren hat. Sie weiß nur nicht was. Aber es liegt auf der anderen Seite des Wasserfalls. Also baut sie eine Brücke. Doch auch mit all ihrer Stärke schafft sie es nie, dass die Holzkonstruktionen fest bleiben.“

© Paul Kilian 2024-08-31

Genres
Romane & Erzählungen