Kennst du mich noch?

Tina Doeffinger

von Tina Doeffinger

Story

“Kennst du mich noch?”

“Ja, natĂŒrlich kenne ich dich!”, rufe ich fast immer, wĂ€hrend mein armes Hirn sĂ€mtliche Zeitebenen, SchauplĂ€tze und Ereignisse durchforstet und hoffentlich schnellstmöglich eine befriedigende Antwort ausspuckt.

WĂ€hrend es sucht, spiele ich auf Zeit.

Ein langer, bedeutungsvoll suchender Blick, der ankĂŒndigt, dass jetzt gleich, ganz bald, sozusagen im nĂ€chsten, unmittelbar bevorstehenden Moment, das ultimative Erkennen folgen wird. Mit Namen, Zeit und Ort des letzten Zusammentreffens.

Wenn sich nichts derartiges einzustellen gedenkt, frage ich nach dem Anfangsbuchstaben des Vornamens, rÀtsel und stammel was das Zeug hÀlt, als gÀbe es einen Preis zu gewinnen.

Manchmal antworte ich mit absurden, skurrilen und altmodischen Namen und signalisiere gleichzeitig: Ich weiß, wer du bist, aber deinen Namen habe ich gerade nicht parat.

HĂ€ufig werde ich unvermittelt auf offener Straße mit dieser Frage konfrontiert. Meist von Teenagern, die als Kinder unser Kinderzentrum besuchten.

Vielleicht ist es nicht immer zwingend notwendig, sich an den richtigen Namen zu erinnern, sondern sich am Zusammentreffen zu freuen und echtes Interesse zu zeigen. Gemeinsames erinnern und Erlebnisse austauschen, was denn nach all den Jahren als Besonderheit geblieben ist.

Vor kurzem habe ich etwas Neues probiert. Auf ein so freundliches: “Hallo Tina, kennst du mich noch? “ ließ ich mir wieder Anfangsbuchstaben reichen. Ich konnte mich an das Gesicht erinnern, aber das wars auch schon. “Marina” , ja klar! Ich schlug ihr vor, dass wir beide ein paar Schritte zurĂŒckgehen sollten und uns nochmal ganz neu begegnen. Sie ging auf das Spiel ein und ich hatte eine zweite Chance. Wir liefen wie zufĂ€llig aufeinander zu, schauten uns an, und auf ihre Frage, ob ich sie kenne, konnte ich nun ohne zu zögern antworten:“ klar kenne ich dich, Marina!! schön dich zu sehen!“ Sie strahlte und wir beide lachten herzlich.

© Tina Doeffinger 2022-06-02

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