Killing Klimax: Krise–Krieg–Katastrophe

Mary Modl

von Mary Modl

Story

Der Unterschied zwischen Krise und Katastrophe? Jene Menschen, die das Frühjahr 1945 erlebten und diese Zeit mit dem Heute vergleichen können, wissen die Antwort: Corona ist eine Krise – Krieg eine Katastrophe. Oder wie es Max Frisch so treffend formuliert hat: „Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“

Seit Tagen donnert die Katjuschka – klassisch russisch ausgesprochene, beinahe mit schmeichelndem Unterton untermalte Bezeichnung für Stalinorgel – ihr tödliches Lied ins Weinviertel. Der Vater hatte daheim erzählt, dass der Russ schon über der March sei; oben bei Rabensburg und unten bei Angern.

Die zwölfjährige Everl war tagelang drauf vorbereitet worden, wie sie sich zu verhalten habe, wenn ihr der Russ begegne. „Nix Faschisti, nix Nazi“ solle sie sagen, sofern sie einer bedrohe. Und sie solle wie ein Bub klingen; so wie der Hansl, der Bruder. Die langen, gewellten Haare, auf die sie so stolz gewesen war, hatten schon ein paar Tage zuvor einem Reindlschnitt weichen müssen. Seither trug sie auch Hansls Hosen und Hemden; die Mama hob ja alles auf. Als wenn sie gewusst hätte, dass das ganze Zeug noch Tarnungszwecken dienen solle. Am kindlichen Gesicht war kein Unterschied zwischen Buberl oder Mäderl zu erkennen. Auch an der Figur noch nicht, Gott sei Dank. Für alle Fremden sei ihr Name nun Hansl. Der Bruder an der Front würd’s ihr verzeihen.

Wochenlang schon gab es kein Schulegehen mehr. Alle mussten zuhause bleiben, um sich vorzubereiten. Everl hatte es nicht so recht verstanden, worauf, doch die Tonitant, Mamas jüngste Schwester und laut dieser die Gscheiteste von allen 14 Geschwistern, erklärte es ihr. Die Front stehe bevor, der Russ stehe bald vor der Tür und da müssten die Leut schaun, dass sie ihr Hab und Gut in Sicherheit bringen sollten. Der Russ, so die alte Bergerin, sei das schlimmste Übel. Furchtbares habe man da schon ghört. Die würden wie die Berserker plündern und die Leut verzahn; teils erschießen, teils in den Gulag nach Sibirien verfrachten. Auch Frauen.

„Um Gottes Willen, die armen Frauen“, schlug die alte Bergerin immer wieder die Hände zusammen. Sie sei ja schon aus dem Alter heraus, aber die jungen Mentscha, die armen. Die Tonitant klärte die Everl dann auf, was die Nachbarin gemeint hatte. Dann verstand Everl auch, dass sich die Tonitant mit der Frau Rott am nächsten Tag im alten Erdkeller im Garten, der kaum zu finden war, einbunkern und verbarrikadieren würde. Die Mama würde irgendwo auf einem Dachboden sein. Sie bleibe bei der Großi, die sei ja auch schon ein altes Weib, wie der Vater meinte.

Wenige Tage später, am 27. April 1945, am neununddreißigsten Geburtstag meiner Großmutter, sollte mein Großvater für die Russen eine Sau schlachten. Diese biss ihn. Die rettende Impfung wurde ihm verweigert. Er starb an Wundstarrkrampf. Elf Tage danach, am 08. Mai 1945 war zwar der Krieg zu Ende. Meiner Mutter war es gelungen, den Hansl glaubhaft zu „spielen“.

© Mary Modl 2020-05-08

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