von JWK
Schon viele Jahre begleitet mich die Frage, warum das Weihnachtsfest in unserer alpinen Heimat in der Liturgie, im Brauchtum und in der Familie ausgeprägter gefeiert wird als das Osterfest. Mit dem Sieg Jesu Christi über den Tod ist Ostern für Christen das Hauptfest des Jahres. Trotzdem scheint das Weihnachtsfest einen größeren Stellenwert zu haben.
Jetzt brachte mich eine Fachzeitschrift zum Thema: „Das Kind in mir“ in der Beantwortung meiner anfangs gestellten Frage einen Schritt weiter. Verschiedene pädagogische und therapeutische Ansätze gehen davon aus, dass in jedem Menschen ein „Inneres Kind“ existiert, das im Laufe des Lebens immer wieder geweckt werden will. Wird dieses Kind wach, so stellt sich mit dem Kind Unbeschwertheit, Leichtigkeit, Neugier, Spiellaune, Kreativität, Lebensfreude, … eines Kindes ein; Gefühle und ein Zustand, dass alles bunt und schön sein darf und sein kann. Mit der Leichtigkeit und Sorglosigkeit eines Kindes werden die Situationen des Alltags gesehen und bewältigt.
Wenn ich mir vergegenwärtige, was rund um das Weihnachtsfest aus Bibel, Liturgie und dem alpenländischen Brauchtum an Themen auftaucht, dann scheint mir die Nähe zum „Inneren Kind“ gegeben. Das Fest dürfte ein großes, meist unbewusstes Wachrütteln des Kindseins bewirken. Mit fast jedem Detail des Festes wird eine Perspektive der Kindheit wach und es geschehen im wahrsten Sinne Wunder über Wunder: Man beginnt wieder zu staunen und freut sich auf Überraschungen. Geschenke werden ausgetauscht und Erwachsene, die das Jahr über nie gesungen haben, stimmen Lieder an, weinen vor Rührung und freuen sich über einen geschmückten Baum und über leuchtende Kerzen. Und gefeiert soll vielfach so werden wie früher. In vielen Familien wird die Krippe sorgfältig aufgebaut. Die Figuren dürfen an ihre angestammten Plätze rücken und dann verbreitet sich eine heilige Andacht. Es wäre eine Beleidigung, da an ein Puppenspiel zu erinnern, und doch ist die Analogie unverkennbar.
Die Weihnachtszeit, vor allem die Heilige Nacht, entfaltet solche Kraft, dass feindliche Soldaten im Krieg die Kampfhandlungen unterbrachen und miteinander eine Zigarette rauchten, vielleicht sogar gemeinsam eine Strophe Stille Nacht in je eigener Sprache sangen und erst dann wieder in ihre Stellungen zurückkehrten, um weiterzukämpfen. Vielleicht kann man diesen kurzzeitigen Frieden als Unterbrechen des Erwachsenendaseins und als Wachwerden des heilen „Inneren Kindes“ deuten.
Natürlich ist und bleibt das Weihnachtsfest ein Fest des Glaubens. Das größte Geschenk ist und bleibt, dass sich Gott selbst als Kind unserer Welt schenkt. Wie schön, dass uns mit diesem Glaubensfest auch ermöglicht wird für Augenblicke wieder ein Kind sein zu dürfen. „Wenn ihr nicht … werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.“ (Mt18,3)
© JWK 2022-01-15