von Gregor Demblin
In der U-Bahn, am Weg nach Hause. Es war ein harter Tag, am Vormittag fünf Meetings ohne Pause, dann Präsentation in einem Versicherungskonzern, anschließend Telefonkonferenz mit unseren Investoren. Viel Kaffee. Keine Zeit zum Mittagessen. Meine Mails verschiebe ich auf morgen.
Station Schwedenplatz. Obwohl es schon 25 Jahre her ist, erinnere ich mich hier oft an das „Überlebenstraining“. Es war, nach circa 5 Monaten im Rehabzentrum, mein erster Ausflug in die reale Welt. Wir waren sechs Rollstuhlfahrer. Hier wurden wir alleingelassen, um erste Erfahrungen zu sammeln, wie man im öffentlichen Raum im Rollstuhl zurecht kommt. Liftschalter erreichen, im Rollstuhl einkaufen, fremde Menschen um Hilfe bitten. Es ist uns allen wahnsinnig schwergefallen.
Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, zieht es mein Herz zusammen. Hätte ich doch geahnt, was das Leben noch alles bereithält! Abends, nach einem Tag voller Therapien, saßen wir immer in der Kantine, 15 Rollstühle an einem Tisch. Es waren auch ein paar „alte Hasen“ dabei, deren Unfall schon mehrere Jahre her war. Von ihnen konnte man lernen, wie das Leben zu meistern sein wird.
Es waren oft keine allzu erfreulichen Aussichten. Manche hatten eine Freundin, andere lebten bei ihren Eltern. Wie oft habe ich gehört: „Kinder habe ich keine. Würde ich auch nicht wollen. Ich kann ja nicht einmal mit meinem Sohn Fußball spielen.“ Das war für das Selbstbewusstsein eines 18-jährigen nicht förderlich.
Aus unserer Wohnung kommt mir ein irrer Lärm entgegen. Heute geht es wieder wild zu. Doch als die Wohnungstür ins Schloss fällt, hört der Lärm plötzlich auf. Eine aufgeregte Kinderstimme schreit: „Der Papa ist zu Hause!!!“
Die Wohnzimmertür fliegt auf, und meine neunjährigen Zwillinge rasen auf mich zu und umarmen mich, einer hängt rechts an meinem Hals, einer links. Dahinter kommt Timotheus, schreiend und strahlend, und versucht sich durchzudrängen und mich auch noch zu umarmen. Ganz hinten, auf allen vieren, krabbelt unser Kleinster um die Ecke. Auch er schreit und strahlt über das ganze Gesicht. Was für ein Empfang!
Diese Freude, diese bedingungslose Zuneigung, ist mit nichts vergleichbar. Wenn ich krank bin, oder einen schlechten Tag habe, schickt meine Frau die Kinder zu mir. Ich weiß nicht, wie sie das machen, aber sie wischen alles Schlechte in einer Sekunde weg. Mit meinen Kindern bin ich in einer anderen Welt. Einer Welt der Liebe und des Glücks.
Und es stimmt: ich kann mit meinen Kindern nicht Fußballspielen. Nur: es macht überhaupt keinen Unterschied. Ein guter Vater ist nicht der, der Fußballspielen kann. Ein guter Vater ist der, der immer für seine Kinder da ist. Der sich lieber mit seinen Kindern auseinandersetzt, als mit dem Mobiltelefon. Bei dem sich die Kinder geborgen fühlen.
Ich bin meiner Frau unendlich dankbar dafür, dass sie daran nie gezweifelt hat. Dass sie Kinder bekommen hat mit einem Mann, der nicht Fußball spielen kann. Es ist das größte Glück meines Lebens.
© Gregor Demblin 2020-04-25