Kirschblüten im Herz

Gino Dola

von Gino Dola

Story
Japan 2024

Unzählige Herzschläge schon, Jahrzehnte, ein halbes Leben lang weilt dieses Gefühl tief in meinem Innern. Als wäre es ein Lied, spielt der Refrain wieder und wieder in meinem Herzen. Ja, wäre dieses eine Gefühl ein Lied, allein der Bass würde tief in meiner Seele vibrieren. Wie ein Wunsch, der nach Jahren versucht an die Oberfläche zu brechen, schwingen die Verse durch meinen Körper. Als hätte ich Kirschblüten im Kopf, die sich zart und rosafarben um jeden meiner Gedanken wickeln, sie vollständig einhüllen, kann ich an nichts anderes denken. Ich habe es versucht: was ich auch tue, woran ich auch denke und arbeite – es scheint alles nur auf diesen einen Moment hinzuarbeiten. Das Lied meiner Seele spielt tagein tagaus – wiederholt sich Vers für Vers, dann der Refrain. In einer ewigen und endlosen Dauerschleife lebe ich die Töne meines eigenen Liedes, schlafe ich mich in die Träume zwischen den Noten und bin selbst der Refrain. Auf meine Zunge legt sich der Geschmack von grünem Tee, Wünsche und Träume platzen, ich lasse sie los. Nur eine Note bringt mich aus dem Takt, gefangen im Refrain; mir selbst. Ich fühle die Tatamis unter mir, spüre die warmfeuchte Brise, die der letzte Taifun auf meiner Haut hinterlassen hat. In meinen Augen brennen noch immer die Lichter der Stadt – der Stadt, nach der sich alles in mir zu sehnen scheint – der Stadt, die mein Herz mit jeder einzelnen Faser liebt. Es ist wie ein Ziel, welches ich nicht aus den Augen verlieren kann, selbst wenn ich nicht mehr kann, laufe ich weiter – immer weiter. Ein so kraftvoller Wunsch, dass ich bereit bin alles dafür zu geben. Sechstausendzweihundert Tage frage ich mich schon: »Was tue ich hier eigentlich?« Sechstausendzweihundert Tage denke ich immer wieder: Warum tue ich es nicht endlich? Ich werde es tun. Ich tue es. Ich – habe es getan! Ich habe Kirschblüten im Kopf, Glück durchströmt mein gesamtes Ich, füllt mich über mein Selbst hinaus aus. Der Refrain in mir wiederholt sich öfter als in jedem anderen Lied meines Lebens, als gäbe es nur noch dieses eine Lied. Es gibt nur noch dieses eine Lied, diesen einen Wunsch. Mein Kartenhaus, das ich vor zwölftausendsiebenhundertfünfzig Tagen begonnen habe zu bauen, lasse ich einstürzen. Ich trenne mich von meinen wichtigsten Karten; jenen Karten, auf denen mein Kartenhaus ruht. Es soll wackeln, endlich umfallen. Der Refrain spielt nun als einziger Teil des Liedes in mir, wieder und wieder. Ich weine – wie so oft – doch sind es diesmal Freudentränen, japanische Tränen. Kirschblüten füllen mich aus, ich breche aus mir selbst aus, aus meinen Gewohnheiten, entfliehe dem ach so gemütlichen Alltag. Ich befreie mich aus dem Nest, dem heimisch gewordenen Käfig, dessen Stäbe aus Sicherheit und Vertrautheit bestehen. Ich habe das Gefühl, das erste Mal zu leben, mich zu spüren. Das erste Mal in meinem Leben ist »wunschlos glücklich« mehr als eine dahergesagte Metapher, mehr als eine wünschenswerte Traumvorstellung, die auf unerfüllten und materiellen Wünschen beruht. Neun Tatmai groß ist mein wunschloses Glück. Neuntausendzweihundertfünfzig Kilometer ist mein Wunsch entfernt. Zweihunderteinundsiebzig Tage trennen mich noch von meinem Glück. »Lebe wohl«, sage ich der alten Heimat, in der ich geboren und aufgewachsen bin, doch wollte mein Herz niemals hier sein. »Lebe wohl«, sage ich dem Land, das ich vielleicht für immer verlasse, es aber niemals vergesse. Mit Kirschblüten im Herz beginne ich bald mein neues Leben.

© Gino Dola 2024-04-19

Genres
Romane & Erzählungen, Reise
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Emotional
Hashtags