von Lorenz Graf
Bei meinen Spaziergängen fielen mir im Juni besonders die Kirschenbäume auf. Verlockend lugten die köstlich roten Früchte zwischen den Blättern hervor. Wie gerne hätte ich eine kleine Menge gepflückt, um sie an Ort und Stelle zu verspeisen. Für mich als kleinen Menschen hingen sie aber viel zu hoch oben und waren unerreichbar. Das war vielleicht ganz gut so, sonst hätte ich wahrscheinlich eine zu große Menge dieser schmackhaften Früchte verzehrt. So wie damals jedes Jahr, als ich noch ein Kind war. In den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gab es noch keine große Fülle des Warenangebotes in den Geschäften und Obst wurde praktisch gar nicht angeboten. In meiner Heimat gab es eine Straße, die schnurgerade nach Ungarn führte in unsere ehemaligen Nachbarorte. Durch den unseligen Vertrag von Versailles, ausgehandelt von ahnungslosen Politikern, wurde die Straße einfach durch einen Stacheldrahtzaun und ein Minenfeld durchgeschnitten. Bis zu dieser Sperre säumten rechts und links große Kirschenbäume die Fahrbahn. Im Mai konnte man gegen eine geringe Gebühr von der Gemeinde einen Baum erwerben, natürlich nur zum Ernten. Jedes Jahr hat mein Vater einen solchen Baum nahe der Grenze „gekauft“. An vielen Tagen traf ich mich dort mit Vater, Mutter, Geschwistern, Nachbarn und Cousins zur Kirschen-Ernte. Die Erwachsenen benutzten mitgebrachte Leitern und wir Kinder kletterten in der Baumkrone herum. Wir aßen und aßen und genossen die süßen Früchte. Das Ergebnis waren fast immer Bauchschmerzen mit allen ihren Folgen. Die Kirschen waren halt viel zu gut, um widerstehen zu können und so büßte es unser Bäuchlein das nächste Mal wieder. Große Mengen Kirschen wurden mit den Fahrrädern nach Hause transportiert, dort zu Kompott verarbeitet und in speziellen Gläsern für den Winter eingelagert. Noch immer kann ich heute einem „Breselfleisch“ (paniertes Schnitzel oder Backhendl) zusammen mit Kompott nicht widerstehen. Es kann auch Marillen- oder Pfirsichkompott sein! Andere Beilagen brauche ich nicht dazu. In meiner Gymnasialzeit fuhren wir mit einem Traktoranhänger nach Donnerkirchen im Burgenland, wo wir eine ganze Wagenladung Kirschen geerntet haben, die uns dankenswerterweise geschenkt wurden. Wir zehrten ein ganzes Jahr im Internat davon.
Bei meinen Spaziergängen musste ich leider feststellen, dass niemand die herrlichen Kirschen erntet. Sie fallen herunter, werden zertreten und von Autos zerquetscht. Niemand hebt sie auf. Ich verstehe das nicht. Für uns Kinder waren Kirschen nach der Katastrophe des Krieges die ersten heiß begehrten Früchte des Jahres und daher besonders willkommen. Wenigstens die Vögel können sich freuen. Heute sind die Abteilungen in den Supermärkten voll mit Obst, auch mit Kirschen. Niemand weiß aber, woher sie wirklich kommen, gar von einem weit entfernten Land oder einem anderen Kontinent und wer sie wo gepflückt hat. Was mit den Kirschen zwischen Ernte, Transport und Lagerungen passiert ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Solche Kirschen mag ich nicht, auch wenn ich mein „Breselfleisch“ ohne sie essen muss.
© Lorenz Graf 2025-07-02