Klagen erlaubt

SabineWuganigg

von SabineWuganigg

Story

Corona hat uns alle berührt. Ich versuche, mich an all diese Vorgaben zu halten. Es fällt mir und meiner Familie nicht schwer. Anfangs war ich positiv gestimmt, ich fühle mich durch unsere politischen Entscheidungsträger gut geführt. Seit gestern überkommt mich eine tiefe Traurigkeit. Ich möchte klagen. Ich will keine allgemeinen Achtsamkeitsregeln mehr lesen, keine belehrenden Selbsthilfe Tipps erhalten. Ich will auch keine allgemeinen gehaltenen unpersönlichen Kettenbriefe, die uns ermutigen sollen. Ich will der Traurigkeit nachspüren, ihr einen eigenen Platz geben. Nach Corona wird alles anders sein, das ist klar. Wie sich unsere Welt verändern wird – das wird zu einem großen Teil wohl noch in den Sternen stehen. Sicher, ich wünsche mir Liebe, Harmonie, Friede, eine intakte Mitwelt, aber wer will das letzten Endes nicht, zumindest für seine eigene, kleine Welt? Mit Corona wird deutlich, wie sehr alles miteinander verbunden ist. Wie sehr wir alle voneinander abhängig sind. Jammern, ja, das war in den letzten Jahren deutlich, das konnten viele von uns, vielleicht wir alle, gut. Aber jammern war, so meine Empfindung, vor allem Ausdruck einer kollektiven Not. Bei aller wohlmeinenden Zuversicht, Hoffnung und Ermutigung denke ich, wir brauchen jetzt als Gemeinschaft den Mut, unsere Klagen und unsere Traurigkeit über den Zustand der Welt ausdrücken zu dürfen. Wir sollten diese Gefühle nicht unbemerkt unter den Teppich kehren. Jetzt sind viele Menschen krank, manche sehr schwer krank. Viele sind geschwächt. Was hat uns, unabhängig von einem Virus, krank und anfällig gemacht? Was war vor Corona los? Ich will mich nicht mehr hinweg schummeln über Zustände, die uns unglücklich machen in diesem neoliberalen, kapitalistischen System. Traurigkeit, Müdigkeit, Erschöpfung, Atemlosigkeit, Mangel an Nähe und Zuwendung, zu wenig Streicheleinheiten, das ist all das, woran wir jetzt als große Gemeinschaft, als Menschheit zu leiden haben – und was zwischenmenschlich bereits vor Corona Thema war… Mangel im Überfluss, zuwenig Zeit für die Menschen in Pflegeheimen, Kinderkrippen, Betreuungseinrichtungen, zuwenig Zeit füreinander, fehlende Streicheleinheiten, wenig Geborgenheit. Trost für die Menschheit beinhaltet jetzt auch innehalten, nichts bagatellisieren, nichts mehr schönreden. Wir sind alle sehr verletzlich. Wir sind bekümmert. Wir sind angreifbar. Die, die jetzt systemerhaltend im Einsatz sind, müssen weiterfunktionieren. Ich bin dankbar dafür. Als diejenige, die mit vielen im Hintergrund ist, versuche ich dem Leiden auch Raum zu geben und es anzuerkennen. Wir brauchen den Mut, unseren Schmerz als Menschheit anzuerkennen und zu würdigen. Und die Hoffnung, dass sich alles wieder zum Guten wendet. Die Basis dafür ist jetzt wohl, zu üben, mit sich selbst gut umzugehen und auch allen unangenehmen Gefühlen Raum zu geben, um mit anderen in einer guten, mitfühlenden Beziehung sein zu können.

© SabineWuganigg 2020-03-19