Klarheit

Selina Solis

von Selina Solis

Story

Eigentlich hätte ich glücklich sein können, wenn ich mich doch nur damals durchgesetzt hätte. Wenn ich schon damals die innere Stärke gehabt hätte, die ich heute in mir trage, wäre vielleicht alles anders gekommen. Dann, ja dann wäre ich vielleicht glücklich. Doch als ich hinausblicke, erscheint mir die Welt trostlos und grau, in diesem Moment verschleiert vom prasselnden Regen. Die Tropfen, die ans Fenster schlagen, ziehen rasch hinab, wie Tränen, die heimlich in die Tiefe gleiten. Ich seufze leise und bemerke mein eigenes Spiegelbild im Fenster, ein Gesicht, das mich mit stillen Augen ansieht. Eine Strähne meines Haares ist mir ins Gesicht gefallen, unbemerkt, wie viele andere Dinge, die ich in letzter Zeit übersehen habe. So leicht vergisst man, was um einen herum passiert – und auch, wer man selbst ist.

Langsam ziehe ich die Knie an meinen Körper, schmiege mich enger in die kleine Nische der Fensterbank, die mir kaum Platz lässt. Es ist ein stiller Rückzugsort, fast wie ein kleines Universum, das mir gehört. Die Dunkelheit des Raums hinter mir mischt sich mit der Melancholie draußen, und für einen Moment fühle ich mich allein und verloren. Doch dann, plötzlich, flutet Licht in den Raum und holt mich aus meinen Gedanken. Er tritt ein, bringt eine warme Präsenz mit sich, eine Wärme, die die Kälte des Regens vertreibt. Seine Augen finden meine, und ich merke, wie mein Gesicht sich zu einem Lächeln verzieht, fast von selbst. Es ist, als würde die Schwere meines Herzens auf einmal leichter, als würde all die Dunkelheit verschwinden. Ein Gefühl von Frieden durchströmt mich, eine stille Zufriedenheit, die ich zuvor kaum zu erahnen wagte. Innerlich spüre ich, dass ich doch glücklich bin – vielleicht nicht auf die Weise, die ich einst erhofft hatte, doch genau so, wie das Leben es für mich vorgesehen hat.

Für einen Augenblick wirken die Wände des Zimmers, als würden sie sanft pulsieren, als sei der Raum selbst lebendig geworden, erfüllt von einer Wärme, die tief in mein Herz strömt. Das Knistern seiner Schritte auf dem Holzboden hallen leise, als er sich mir nähert, und ich spüre, wie sich die Kälte und das Grau, das so lange in mir festsaßen, Stück für Stück auflösen. Die Welt, die eben noch trostlos und verwaschen hinter dem Regen lag, beginnt wieder Farbe zu finden, als könnte seine Anwesenheit allein sie zurück ins Leben rufen.

Er setzt sich mir gegenüber auf die schmale Fensterbank und blickt mir direkt in die Augen. Für eine Weile sprechen wir nicht, und doch fühlt es sich an, als würden wir einander alles sagen, wortlos in diesem Augenblick. Die Stille ist nicht schwer, sie ist leicht und umhüllt uns sanft, wie ein stiller Atemzug, den wir teilen. Ich halte seinem Blick stand und sehe das sanfte Leuchten in seinen Augen – ein Licht voller Wärme und tiefer, bedingungsloser Akzeptanz. Es ist, als ob er durch jede Schicht hindurchblickt, mich sieht, ganz und gar, mit all meinen Stärken und Schwächen. Und da wächst in mir ein leiser, klarer Gedanke: All die Wege, die Umwege, die Narben, die ich trage – vielleicht waren sie notwendig, um hier anzukommen und diesen Moment wirklich spüren zu können.

„Manchmal,“ sage ich schließlich, mehr zu mir selbst als zu ihm, „braucht es nur einen Menschen, um zu verstehen, dass das Leben genau richtig ist, so wie es gekommen ist.“

© Selina Solis 2024-11-13

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Reflektierend, Inspiring