von Kathrin Schink
Betreut jemand Kinder und werden auch eigene Kinder am selben Ort betreut, ist es besonders wichtig, Klarheit über die jetzt aktuelle Position zu haben. „Wahren Sie professionelle Distanz!“, ist leicht gesagt, dabei zu bleiben keineswegs. Je kleiner die Einrichtung, je intensiver der Kontakt zu den Menschen, umso klarer muss das Wissen über die eigene momentane Position sein.
Eine alltägliche Situation in der Garderobe: Kinder werden abgeholt. Eine Begleiterin tauscht kurze Informationen mit dem jeweiligen Elternteil bezüglich des Kindes aus. Völlig unerwartet kommt die Frage: „Wie gut spricht dein Kind eigentlich?“ Sie ist an die Begleiterin gerichtet und bezogen auf deren Kind, das auch vor Ort betreut wird. Die Fragende vermutet einen Zusammenhang zwischen der Ausdrucksfähigkeit und dem Umstand, dass das Kind der Gefragten das andere Kind biss. Die Begleiterin verweist darauf, dass sie diese Frage aktuell nicht beantworten kann, da sie die Aufsichtspflicht für andere Kinder hat. Die Fragende verabschiedet sich mit ihrem Kind. Ein ungutes Gefühl bleibt.
Die Begleiterin durchdenkt die Situation. Ihr ist unklar, woher das Unwohlsein kommt. Sie spürt dem nach: ‚Wenn mich jemand beim Abholen seines Kindes fragt, wie gut mein Kind spricht, weil es ein anderes Kind biss, bin ich unsicher – wütend – besorgt – unruhig. Ich bin unsicher, weil mir Klarheit fehlt. Antworte ich als Mutter meines Kindes oder als Begleiterin der Gruppe? Ich bin wütend und unsicher, weil ich als Mutter denke, mein Kind würde als entwicklungsverzögert gesehen. Ich will es davor schützen. Ich bin unruhig, weil jetzt keine Zeit ist, eine echte Verbindung aufzubauen und mit der Fragenden zu sprechen. Ich bin Begleiterin für eine Anzahl von Kindern, trage die Verantwortung und stehe für ihre Sicherheit ein. Ich bitte mich, für Klarheit zu sorgen: Als Begleiterin – dies direkt ausgesprochen – bitte ich die Fragende, sich an die Bezugsbegleiterin des betreffenden Kindes zu wenden, da ich jetzt keine Antwort geben kann. Sofern sich später die Möglichkeit zum Austausch ergibt und dies gewünscht ist, kann ich als Mutter – dies direkt ausgesprochen – mit der Fragenden in den Austausch zum Verhalten beider Kinder gehen.‘
Die Begleiterin fühlt sich in die Mutter ein, versucht die Situation aus deren Sichtweise zu betrachten, um mit ihr in Verbindung zu kommen: ‚Wenn ich die Begleiterin frage, wie gut ihr Kind spricht, das meines gebissen hat, bin ich aufgeregt – ärgerlich – besorgt – interessiert, weil ich mir Sicherheit für mein Kind wünsche. Gibt es einen Grund für meine Sorge? Ich suche nach einer plausiblen Erklärung. Ich bitte mich, dies vor Ort zu besprechen und genau nachzufragen.‘
Diese Einfühlung in das Gegenüber hilft, den anderen als Menschen wahrzunehmen und ein zugewandtes Gespräch zu beginnen, z.B.: „Machst du dir Sorgen darüber, dass mein Kind deines wiederholt beißen könnte, weil es noch nicht sagen kann, was es möchte?“
© Kathrin Schink 2022-08-12