von Nicoletta Müller
Seine Finger flogen über die Tasten. Ich hatte schon gewusst, dass er Klavier spielen konnte, doch noch nie hatte ich ihn spielen gehört. Die Töne schallten durch den Raum, tanzten und wiegten sich hin und her. Man konnte die Noten förmlich sehen. Mal lauter, mal leiser, sanft und dann wieder voller Leben. Ich stand am Türrahmen und beobachtete ihn. Meine Wangen färbte ein heißes Rot, während der Fluss der Musik mich umgab und mitriss. Er strahlte in den wundervollsten Farben. Noch nie hatte ich so etwas gesehen. Oder kam es mir nur so vor?
Ich traute mich kaum zu atmen, während ich zusah, wie seine Finger sich flink über die Tasten bewegten und die Melodie zu mir herüber floss. Glücklich lehnte ich mich an den Türrahmen und bekam überhaupt nicht mit, dass er aufhörte zu spielen. Sein Kopf war gesenkt und ich hörte ihn leise seufzen. Auf einmal hob er den Kopf und sah mich an. Vor Schreck riss ich die Augen auf und versteckte mich um die Ecke. Ein leises Lachen war aus dem Raum zu vernehmen. Dann wurde es still. Schüchtern sah ich um die Ecke und „Boo!“
Ich zuckte zusammen und setzte mich im Bett auf. Schon wieder! Ich hatte schon wieder von ihm geträumt. Und wieder war es dasselbe Lied gewesen. Langsam legte ich mich wieder hin und legte meinen Arm auf die Augen. Leise begann ich die Melodie zu summen. Meine Tränen begannen zu laufen. Nach der langen Zeit konnte ich ihn immer noch nicht vergessen. Je mehr Tränen sich einen Weg nach draußen bahnten, desto deutlicher wurden im Hintergrund eine leise Melodie. Leise Klaviertöne drangen immer deutlicher zu mir durch. Ich lächelte traurig. Ich hörte ihn immer noch spielen. Der Musik lauschend, schlief ich wieder ein.
Es war ein Traum, alles nur ein Traum. Das redete ich mir ein und ich versank immer mehr in einer Welt, nach welcher ich mich sehnte. Eine Welt, in welcher er mich noch liebte. Eine Welt, in welcher ich seine Musik nicht in meinen Träumen hörte, sondern neben ihm stand und ihn auf der Violine begleitete. Mein Herz brach in tausend Stücke als ich, geweckt von einem kreischenden Quietschen, die Augen auf schlug. Ganz nah vor mir Augen! Blaue Augen, welche sich in mein Gehirn brannten. Eine sanfte Berührung an meiner Wange. Eine raue Stimme, welche an mein Ohr drang. „Hey! Wie hast du geschlafen?“
Ich zuckte zurück. Er! Wie konnte das sein? „Hast du mich spielen gehört?“, flüsterte er gefährlich. Ich riss die Augen auf. Das durfte nicht sein! Das konnte nicht sein! Er sollte nicht hier sein! Er sollte Tod sein!
© Nicoletta Müller 2023-06-11