von Willi_Schewski
Frühjahr 1970. Ich war in der 2. Klasse der Grundschule in Husum, und eines stand bereits fest: Ich würde nicht versetzt werden. Mit meinen acht Jahren hätte ich wohl einen Funken Trost, vielleicht ein paar aufmunternde Worte verdient. Aber stattdessen begegnete mir mein Vater auf seinem Fahrrad mit einer kalten Verachtung, die ich bis heute spüre. Noch auf dem Rad sitzend, stieß er höhnisch aus: „Bleib gleich zu Hause, du bleibst eh kleben.“ Ein Satz wie ein Urteilsspruch, gesprochen von jemandem, der in seiner eigenen Welt unantastbar über mir thronte. Mein Kumpel J. sah mich fragend an, aber ich konnte nicht mal antworten. Der Schmerz der Erniedrigung saß zu tief.
Nicht nur die Worte meines Vaters trafen mich wie ein Keulenschlag, sondern auch das Schweigen danach. Keine Erklärungen, keine Versuche, mir zu helfen oder mich zu stützen. Es gab nur Scham und Schuldgefühle, die sich in mir festfraßen. Ich war zu dumm für die Schule, zu wertlos für Anerkennung – so dachte ich. Ein Gefühl, das mich wochenlang nicht losließ, das in Tränen, Schlaflosigkeit und Selbstzweifeln mündete.
Und dann kam der letzte Schultag. Frau Eggers, die Lehrerin, überreichte mir mein Zeugnis. Kein Blick, kein Wort. Einfach eine kommentarlos überreichte Bestätigung meines Versagens. Für sie war ich ein Fall, der keine Mühe mehr wert war. Ich war nicht versetzt, das war alles, was zählte. Aber das reichte ihr nicht. Sie musste noch einmal mit ihren Bemerkungen nachtreten:
„... ist nicht fähig zu ausdauernder, konzentrierter Mitarbeit. Er ist unausgeglichen und beteiligt sich nur schwach am Unterricht.“
Kein Verständnis, keine Hilfe. Nur das eiskalte Leistungsprinzip, das uns kleinen Kindern Anfang der 1970er Jahre in der BRD abverlangt wurde. Wir wurden bewertet, gemessen und für „nicht gut genug“ erklärt. Von den Eltern und der Schule gleichermaßen. Wie kann man sich als Kind entwickeln, wenn man in so einem System steckt? Wo ist der Raum für Fehler, für Wachstum, für Individualität? Wo ist die menschliche Wärme geblieben, die ein Kind eigentlich braucht?
Stattdessen wächst man mit einem Gefühl der Unzulänglichkeit auf. Man lernt früh, dass das eigene Wertgefühl nicht zählt, nur die Leistung. Das Selbstbewusstsein, das Selbstwertgefühl – sie erodieren still, bis nur noch Angst und Scham übrig bleiben. Und so weint man sich nachts in den Schlaf, verdrängt den Schmerz, bis man kaum noch weiß, wer man eigentlich ist. Ein Kind? Oder nur eine Nummer in einem System, das für Mitgefühl keinen Platz hat? Der seelische Schaden, den ich damals erlebte, verfolgt mich bis heute – er ist die Last, die mir mein Vater, meine Lehrerin und das System gleichermaßen aufgebürdet haben.
© Willi_Schewski 2024-09-27