von Shona Redstone
In einer kleinen Siedlung wohnt ein Mann neben einer Frau. Die beiden haben noch nie ein Wort miteinander gewechselt. Kein „Guten Morgen“ oder kein „Na, wie geht’s?“. Jeden Tag leben sie nebeneinander vor sich hin, aber in Gedanken sind sie meilenweit weg. Trotzdem winken sie sich jeden Morgen und jeden Abend, wenn der Mann zur Arbeit geht oder wiederkommt, zu. Auch, wenn sie sich mal zufällig treffen, wird die Hand gehoben.
Er wohnt in einem großen Haus mit einem wunderschönen Garten, den er auch tagtäglich hegt und pflegt. Er bringt allein den Müll raus, sitzt auf der Terrasse, trinkt Kaffee oder Tee, lauscht dem Gesang der Vögel und streichelt währenddessen seinen Kater.
Montags, die Frau ist Krankenschwestern und auf dem Weg zu ihrer Schicht, da sieht sie den Mann auf der Terrasse, der Zeitung an einem gedeckten Frühstückstisch liest. Als er die Frau sieht, winkt er. Sie winkt zurück und lächelt.
Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, …So geht es jeden Tag weiter.
Nun sind inzwischen zwei Jahre vergangen und die Gruß-Beziehung ist in der Zeit nicht abgebrochen. Die Frau ist gerade auf dem Weg zurück, wobei sie am Haus des Nachbarn vorbeigeht. Da denkt sie sich: “Ach, was soll’s. Ich bringe ihm ein Stück Kuchen vorbei.” Gesagt, getan. Jetzt steht sie vor der Tür und klingelt. Eine jüngere Frau öffnet. „Hallo!“, sagt sie freundlich. „Guten Tag, ich bin die Nachbarin und ich wollte Ihnen ein Stück Kuchen vorbeibringen.“ „Na, dann kommen Sie doch kurz herein.“ Sagt sie bittend und lässt sie vorbei. Die Nachbarin folgt der Frau ins Wohnzimmer, wo der Mann am Tisch sitzt und verträumt in den Garten schaut. Die Frau fängt an, an der Kaffeemaschine herumzuwerkeln und die Nachbarin geht langsam auf den Mann zu, der sie anscheinend noch nicht bemerkt hatte. Als sie jetzt ganz neben ihm steht, zuckt der Mann leicht zusammen und hebt den Kopf. Als er sie erkennt, hebt er die Hand und winkt. Wie aus Reflex winkt die Frau zurück. Sie lächelt. Er lächelt zurück. Und zwischen ihnen liegt ein vertrautes, pulsierendes Band. Niemand sagt ein Wort, die Zeit scheint still zu stehen.
Jetzt spricht die junge Frau leise: „Sie sind doch die Nachbarin, die jeden Tag hier vorbeikommt und winkt, oder?“. Die Nachbarin bejaht nickend. Nun erzählt die Frau, dass der Mann unter Autismus leide und dass das Erfreulichste an seinem Tag ist, wenn sie sich zuwinken. Jeden Tag freut er sich darauf, für eine Sekunde seine Hand zu heben und ihr zuzuwinken. Daraufhin wird der Nachbarin ganz warm ums Herz und strahlt.
Sie ist ganz erstaunt, dass so kleine Gesten so viel für manche Menschen bedeuten können.
© Shona Redstone 2021-04-01