Kleine Drachen

Silvia Peiker

von Silvia Peiker

Story

Mittlerweile hatte ich mich auch bei mehreren Jobagenturen angemeldet und diese sandten mir auf meine beruflichen Fertigkeiten zugeschnittene Stellenangebote zu. Nachdem ich mich auf eine interessante Annonce beworben hatte, die eine Halbtagesbeschäftigung in der Verwaltung eines großen Wiener Krankenhauses in Aussicht stellte, wurde ich tatsächlich, gemeinsam mit einer anderen, blutjungen Bewerberin, zum Interview eingeladen. Groß war meine Freude, als ich erfuhr, dass nur wir beide aus dem großen Bewerber*innenpool es geschafft hatten, in die engere Auswahl zu kommen.

Sorgfältig wählte ich meine Garderobe für den alles entscheidenden Schicksalstag, nicht zu elegant, aber auch nicht zu salopp. Überpünktlich orientierte ich mich auf dem riesigen Areal, im Fokus das hohe Verwaltungsgebäude, das ich tatsächlich in kürzester Zeit entdeckte. Nachdem meine Kontrahentin und die Mitarbeiterin der Agentur ein wenig später eingetrudelt waren, machten wir uns auf den Weg zum Büro des Direktors, da dessen Sekretärin eine Assistentin benötigte.

Besagte, bebrillte Dame empfing uns schon im Vorraum der großzügig angelegten Büroräume und forderte eine von uns auf, mitzukommen. Leider schaltete ich nicht schnell genug und meine hübsche Mitbewerberin ließ mir respektvoll den Vortritt. Ein Punkt für sie. Mit klarer Präzision erläuterte die Chefsekretärin sämtliche, wenig anspruchsvolle Aufgaben, die sie an die neue Kollegin abtreten wollte. Dazu zählten E-Mail Sichten, Postein- und Ausgang bearbeiten, Telefon beantworten und die Ablage der Schriftstücke. Das sollte kein allzu schwieriges Unterfangen darstellen und so versicherte ich ihr wahrheitsgemäß, dass ich diese Tätigkeiten gerne übernehmen wolle.

Der Leiter der Verwaltung glänzte beim Interview durch Abwesenheit und überließ es seiner Angestellten, eine Auswahl zu treffen. Gegen Ende des Gesprächs öffnete diese die Tür zu einem angrenzenden, großen Raum, in dem ich zu meiner Verwunderung ein riesiges, oben offenes Terrarium erblickte. Diese Szenerie erinnerte mich an das Schönbrunner Wüstenhaus, da aufgrund der Wärmelampen ein äußerst trockenes und warmes Klima vorherrschte. Mit Stacheln bewehrte, graue Echsen glotzten mir neugierig entgegen und ich erfuhr von meiner möglicherweise zukünftigen, offensichtlich erleichterten Kollegin, dass das Füttern der Bartagamen, die mit ihren schuppigen Körpern Minidrachen ähnelten, dann meine Aufgabe wäre. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen, denn Echsen zählen nun mal nicht zu meinen Lieblingstieren. Dennoch versicherte ich meine Bereitschaft, diese Kaltblütler mit Lebendfutter wie Heimchen, Heuschrecken oder Fliegen zu verpflegen, auch wenn mir davor grauste.

Den Job hat meine smarte Kollegin ergattert, indem sie bekundete, dass sie bereits Erfahrung mit den kaltblütigen Wüstenbewohnern gesammelt hatte. Ein cleverer Strike.

Eigenes Foto: Legodrache von Ai Weiwei

© Silvia Peiker 2022-11-23

Hashtags