Ich weiß nicht, wieso ich Aurelians Patentante bin. Römischer Kaiser, endlich ein männlicher Thronfolger. Nicht auszudenken mit nichts als einer Tochter. Sein Vater kennt mich nicht und es ist ihm egal. Meine Mutter, will sie beweisen, dass die Tochter auch was taugt, rennt nach oben, zeigt Publikationen.
Er sagt: „Joa, ist doch schön“, aber ich weiß, was er denkt: Mama, ich bin doch da, wieso redest du die ganze Zeit von ihr? Weil du nie von ihr redest, würde sie entgegnen. Du fragst nie, weißt nicht, in welchem Stadtteil sie lebt, weißt nicht, womit sie ihre Zeit verbringt, ihr Geld verdient.
Schreiben? Hedonistischer Zeitvertreib. Mann hat dafür keine Zeit: arbeitet sechzig Stunden die Woche, macht Überstunden, ist der erste und letzte im Krankenhaus. Warum er das macht, jede Gelegenheit nutzt, von Zuhause abzuhauen, sagt er nicht. Redet man nicht über seine Themen – Nachbarn, Todesfälle, Krankheiten, Grundstückkauf – schweigt er. Er glaubt weder an Gott noch an die Kirche, aber getauft werden müssen Sohn und Tochter trotzdem. Sonst können sie später nicht aufs katholische Gymnasium, Ärzte werden, wie er.
Patin bedeutet, Elternersatz zu werden, im Todesfall. Komisch, denke ich, wo du mich keine zwei Sätze unüberwacht lässt. Du möchtest, dass ich mich für deine Kinder interessiere, aber dass du dich auch für mich interessieren könntest, kommt dir nicht. „Die Kinder würden sich freuen, wenn du am Sonntag zum Kuchen kämest.“ Und du? Denke ich. Was ist mit dir? Nach neun Jahren, die ich in einer anderen Stadt lebe, immer noch keine Frage?
Manchmal schickt er unkommentierte Fotos, keine Frage, keinen Text. Weil man das so macht. Das gehört sich so. Immerhin bin ich die Patentante. Ich frage mich, was tun: ein Selfie zurückfeuern? Schreibe: Wie geht’s euch denn? Merke: Die Antwort interessiert mich nicht. Bin abgestumpft, was Familie anbelangt, weiß nicht, wessen Schuld es ist. Vielleicht gibt es keine Schuld und auch keine Schuldigern.
Bloß nicht Kommuniziertes.
„Wir müssen noch dies kaufen“, „wir brauchen noch das“, „Mama, darf ich vom Hof runter?“, „Mama, darf ich mit dem Roller bis zum Ende der Straße fahren?“
Ängstliche Eltern machen aus ihren Kindern unausstehlich altklug klingende, achtjährige Erwachsene, die sagen: „der Dimitri, der ist nicht so gut. Der geht niemals aufs Gymnasium.“ Sagen: „Ich bin eine Streberin!“, mit unverhohlenem Stolz in der Stimme. „Sie hat wieder all ihre Freundinnen beim Mathetest abgehängt. Erzähl doch mal, Emilie, wie schlecht die anderen Mädchen waren, Sarah und Jana.“
„Statt zu erzählen, wie schlecht sie waren“, sage ich, „hilf ihnen doch.“ Emilie hilft nicht. Stattdessen sagt sie: „Guck mal, ich halte die Gabel schon wie eine Erwachsene.“
Vielleicht bin ich deshalb ihre Tante, um zu sagen: „Du kannst die Gabel auch wie Emilie halten. Musst nicht alles wie die Erwachsenen machen“, die Augen meiner Schwägerin zu spüren, ihrem Blick zu begegnen, standzuhalten.
© Marielle Kreienborg 2021-03-16