von Lena Springer
Völlig unerwartet wurde ich mit zwanzig Jahren noch einmal Schwester. Die Geburt war für meine Mutter nicht leicht, und ich hielt meinen kleinen Bruder daher erst, als er bereits einen Tag alt war. Seine roten Backen, sein feines blondes Haar, die winzigen Finger und seine Hilflosigkeit durchfluteten mich sofort mit mütterlichen Gefühlen. Er stand am Anfang seiner Reise. Seine Speicherplatte war noch leer.
Er wurde noch nie verletzt, noch nie enttäuscht. Er fühlte sich nie einsam, beschämt oder wütend. Er musste keine Ungerechtigkeit erleben oder um eine geliebte Person trauern. Der einzige Schmerz war die Trennung vom warmen Mutterbauch.
Ich sah in seinen dunklen Kulleraugen eine Chance.
Als ältere Schwester konnte ich ihn ins Glück führen. Ich würde ihn vor all dem, das mich verletzt hatte, beschützen, ihm lehren, seine Gefühle zu verarbeiten, immer ein offenes Ohr und Herz haben, ihm Geduld, Aufmerksamkeit und Liebe schenken. Mit mir würde er niemals Einsamkeit spüren müssen, unter der ich selbst lange litt.
Was ich nicht ahnen konnte, waren die Lektionen, die er mir brachte. Durch ihn erkannte ich wahre Achtsamkeit, Lebensfreude und Ehrlichkeit. Er lehrte mich, wie schön ein Lächeln sein kann, dass man für Spaß nicht mehr als die eigene Fantasie braucht und wie tragisch eine Träne sein kann, wenn sie aus dem Auge einer geliebten Person kommt.
Auch sechs Jahre später sind diese Versprechen für mich eine Priorität. Er schläft seit 20:00 Uhr auf der Matratze neben meinem Bett. Ich sehe das sanfte Nachtlicht, das durch den Türspalt scheint, und höre das leise Hörbuch, das er sich ausgesucht hat.
Auch seine Träume sehe ich vor mir: Gemeinsam mit seinem grauen Hundestofftier und zwei verzauberten Schwertern bekämpft er gerade das böse Monster, das die Stadt zertrümmern möchte. Er ist mutig, voller Abenteuerlust und kindlicher Naivität.
Ich weiß, was morgen auf uns zukommt. Er wird aufwachen und mit mir eine große Schüssel Schokomüsli essen. Er wird mich als große, coole Schwester bewundern, mit der er in die Stadt fahren und seine Zeit an den Spieleautomaten verbringen kann. Er wird sich freuen, mich zu sehen, bei mir übernachten wollen und meine Ratschläge als Wahrheit annehmen.
Doch was passiert in zehn Jahren, wenn er Teenager wird? Ich spüre die Angst und Ablehnung, die mit dem Bild einer uncoolen und zu alten Frau mitschwingen. Würde ich verkraften, meinen kleinen Bruder an die Welt zu verlieren?
Die Erinnerungen an die Tage, an denen ich seine Windeln wechselte, werden dann nur noch in meinem Kopf zu Hause sein.
Doch ich sehe uns beide, gemeinsam, er 20 und ich 40 Jahre alt. Egal, was er macht, er wird niemals allein sein. Und hoffentlich erzählt er dann seine eigenen Kindheitsgeschichten – und vielleicht bin ich darin eine Heldin.
© Lena Springer 2025-06-04