von Theodor Leonhard
“Du bleibst dieses Jahr am besten wieder zu Hause, KAUM-HELL! Dich können wir nicht wirklich als hell leuchtenden Stern über der Stadt Jerusalem gebrauchen. So klein wie Du bist! So mickrig wie Du aussiehst! Kaum eine Leuchtkraft geht von Dir aus. Und dann noch Dein mehr als komischer Zacken, der direkt nach unten zeigt. Unsere Aufgabe ist es, am kürzesten und dunkelsten Tag des Jahres den Himmel zu beleuchten. Das geht nicht mit Dir!”
Die Ansage des Obersterns war leider mehr als deutlich. Wieder einmal war der kleine Stern KAUM-HELL außen vor, als es für die Sternenschar zum jährlichen Sonnwendmarkt nach Jerusalem ging. Sicher, von Geburt an fehlten ihm zwei Zacken. Er konnte nicht so schön strahlen. Vielleicht konnte man ihn von unten nur ganz wenig sehen, so klein wie er war. Trotzdem liefen ihm die Tränen über sein Sternengesicht. So gerne wäre er dabei gewesen.
Der Oberstern war kein Un-Stern. Er hatte Mitleid als er KAUM-HELL so sah. Deshalb erlaubte er ihm, dass er bis kurz vor Jerusalem die anderen Sterne begleiten durfte. Aber dann sollte er im Städtchen Betlehem warten, bis die anderen so wunderbaren Sterne von ihrer Leuchttour zurück kamen.
Auf dem Sonnwendmarkt gab es in diesem Jahr außergewöhnlich viele Stände mit einigen Neuerungen: Vom “Wildschwein à la Obelix“ wurden allein schon fünf erwachsene Personen satt. Ein noch nie dagewesenes Getränk mit dem Namen ”Glühwein“ sorgte für Furore. Interessiert beobachteten die Sterne dieses Treiben. Bald aber merkten sie enttäuscht, dass sich eine Entwicklung der letzten Jahre noch verstärkt hatte. Die Lichter in der Stadt waren Tag und Nacht so hell und die Atmosphäre auf dem Markt so hektisch, dass ihr Leuchten am Himmel gar nicht auffiel. Frustriert zogen sie sich wieder in ihren Sternenhimmel zurück – und vergaßen ihren kleinen Kollegen. Wer dachte auch schon an ihn!
Jetzt war am Himmel nur noch der kleine Stern KAUM-HELL zu sehen. Der stand inzwischen über einem Stall, von dem er magisch angezogen wurde. Und er leuchtete mitten in der Dunkelheit heller als vorher die ganze Sternenschar über der großen Stadt Betlehem. Von dort unten drang der kräftige Schrei eines gerade neugeborenen Kindes zu ihm hoch. Das ließ vor allem “den komischen Zacken, der direkt nach unten zeigte” (Zitat vom Oberstern), noch leuchtender strahlen.
Eine Gruppe von Hirten fand dadurch den Weg von ihrem Feld zum Stall und wieder zurück, als sie auf ihrem Weg den neuen Song anstimmten, den sie wohl von irgendwelchen Engeln gehört hatten. Durch einen schmalen Spalt im Dach schickte KAUM-HELL dem neugeborenen Kind ein Leuchten mitten ins Gesicht. Als das Kind zwinkerte, wurde das Leuchten von des kleinen Sterns noch stärker. Drei Menschen in weiter Ferne beobachteten gerade den Himmel. Sie kannten sich mit Sternen aus und wussten, dass jetzt der Retter der Welt geboren war. Sie machten sich auf den Weg zum Kind in der Krippe und zum kleinen Stern über Betlehem. Von wegen KAUM-HELL!
© Theodor Leonhard 2021-12-02