von Jörg Gschaider
Obwohl es für die Fitness überaus vorteilhaft gewesen wäre, hatte ich mich nie für Klettern interessiert. Ich kannte diese Sportart nur aus dem Fernsehen. Das mühsame Haltsuchen, sich an Finger – und Zehenspitzen nach oben quälen, wäre ganz bestimmt nichts für mich. Abseilen sah aber interessant aus.
Zur Höhe hatte ich ein ambivalentes Verhältnis: Eine Hängebrücke oder ein schmaler Steg in lichten Höhen bereiteten mir schauriges Vergnügen, solange ich mich irgendwo festhalten konnte. Schon ein 3 Meter Brett im Schwimmbad oder gewisse Fahrgeschäfte in Vergnügungsparks erschienen mir jedoch ganz und gar nicht vergnüglich. Wie würde sich das Abseilen aus einer Felswand anfühlen?
Jack, ein alter Freund und Mitglied der Bergwacht, war schon unglaubliche Schwierigkeitsgrade geklettert. Ein richtiger Bergfuchs! Er befand den örtlichen Steinbruch als geeignetes Testgelände. Eine etwa 40 Meter hohe, senkrechte Wand wäre für einen Versuch passend.
Am oberen Ende der Wand eine Umlenkung befestigt, mir das Klettergeschirr angelegt, begab er sich nach unten zum Parkplatz, um mich von dort aus zu sichern. „Hmm, ist schon sehr hoch!“, dachte ich mir. „Aber mit einem Profi als Instruktor kann gar nichts schiefgehen!“
„Los geht’s!“, rief Jack. „Du musst Dich zurücklehnen, noch mehr! Noch mehr!“
Unglücklicherweise hatte er vergessen zu erwähnen, dass ich auch mit den Beinen nach unten gehen hätte sollen. Wahrscheinlich hatte er es als selbstverständlich erachtet, dass man sich im Gleichklang mit dem geneigten Körper in Trippelschrittchen nach unten bewegt. Meine nicht ganz zielführende Technik – angewurzelte Beine, immer mehr zurückgelehnter Oberkörper – führte jedenfalls dazu, dass ich bald kopfüber am Seil hing. Weit unter mir der Parkplatz und Jack. Scheiße! Ganz große Scheiße!
Mittlerweile schüttelte es Jack vor Lachen. So würde er das Seil nicht mehr lange halten können. Also befestigte er es an einen Baum und hielt sich den Bauch. Nachdem mein Trainer sich einigermaßen beruhigt hatte, nahm er das Seil wieder zur Hand und rief mir zu: „Kannst jetzt aufhören mit den Späßen! Stell Dich auf die Beine und seil Dich ab!“
Nur: Es war kein Spaß! Ich hing am Seil und wusste mir nicht zu helfen. „Ja wie denn?“, schrie ich zurück. „Tu nicht so blöd und lass mich runter!“
„Ok, ok!“ Er machte die Not zur Tugend und seilte mich kopfüber ab. Mit den Händen voraus! Heißa! Eine Technik war geboren, die bis dato am Berg noch nicht gesehen worden war – und wohl auch weiterhin keine Anwendung finden wird.
Wenn Jack und ich beim Bierchen sitzen, reicht jedenfalls „Abseilen“ als Stichwort, um ihm einen neuerlichen Heiterkeitsausbruch zu bescheren.
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© Jörg Gschaider 2021-06-09