von Michael Stary
Als spätberufener Kaffeeschlürfer kam ich schnell auf den betörenden Geschmack. Nur wenn ich bemerke, dass etwas zu Zwang und Sucht wird, manche sagen Gewohnheit oder Genuss dazu, dann klingelt es bei mir. Spätestens als ich Anthony Williams über das ständig freigesetzte, gekünstelte Adrenalin sprechen höre, erinnere ich mich. Und zwar daran, dass permanenter Stress in den Zellen ja fast lebenslang mein ungewolltes Tagesgeschäft war. Auch als er meinte, dass durch den ständigen Spiegel von Koffein Entscheidungen getroffen würden, die oft nicht sinnvoll seien. Was dann bei mir dazu führte, dass jede entspannte Situation sich irgendwie faul anfühlte, kaum auszuhalten war, da ja der Säbelzahntiger schließlich schon um die Ecke lauern musste. Also lieber schon vorab den Stressmoment erzeugen. Das war die gewohnte Ursache.
Die verletzungsbedingten Auszeiten vom Sport waren immer schlimm, da die Konfrontation mit Schmerz und Stille nicht gerade als bewältigbar anerkannt wurde. Hier griff gleich die nächste Strategie mit Bier & Co und der Teufelskreis war in Bewegung.
Die freien Nervenenden waren durch die vielen Jahre an Adrenalinstrom schon zu Autobahnen verkommen und schrien förmlich nach dem nächsten Stressimpuls. Und gleichzeitig dockte das Kaffeethema in der Vergangenheit an. Dort wo damit innerfamiliär Gemütlichkeit assoziiert wird.
So trank ich Kaffee erst spät im Leben, dafür in guter Intensität. Bis ich anerkannte, dass mein sonst recht guter Schlaf darunter litt und auch meine Gereiztheit zunahm, dauerte es. Nachmittägliche Tiefs inklusive. Meine Leber verstoffwechselt Koffein schlechter, was dazu führt, dass es viele Stunden in meinem Körper rotiert.
Warum dann immer wieder?
Der Geruch der frisch gemahlenen Bohnen ist es. Dieser vielschichtige Duft nach so viel Gutem spiegelt zwar nicht den Geschmack aus der Tasse zu hundert Prozent wider, doch kann eine gute Maschine auch wirklich was zaubern. Guter Stoff, gutes Werkzeug, gute Wirkung. Mein Favorit ist kurz und schwarz, mit einem Schuss heißem Wasser. Am liebsten habe ich es, wenn ich das Wasser selbst zugieße. Es muss aber heiß sein, nicht lauwarm. Die Geschmacksexplosion in Nase und Mund aufgrund der Inhaltsstoffe hakt schnurstracks in mein Suchtzentrum ein. Heeellllo Baby!
„Mehr!“, schreit es. Nach Mama und Papa angeblich das dritte Wort, welches Kleinkinder heute lernen. Somit bediene ich mit einem kleinen Schluck nicht nur meine posttraumatischen Stresssynapsen, sondern auch gleich durch den entstehenden Dopaminkick eine Art Verbindung in eine sichere Vergangenheit, die es nicht gab. Und somit werden Erinnerungen bespielt, die auf winzige, heile Momente zurückführen. Und einer davon war schlicht das Kaffeeritual für meine Eltern am Sonntag in meiner frühen Kindheit. Schön war das. Ein „Mehr!“ davon ist niemals aufzuholen.
Heute spielt das Leben. Und nicht Dekaden retour. Atem gibt es für das dünne Nervenkostüm.
© Michael Stary 2021-03-18