Kolibri

Ein Vogel hat niemals Angst davor, dass der Ast unter ihm brechen könnte. Nicht weil er dem Ast vertraut, sondern seinen eigenen Flügeln. (Autor*in unbekannt)

In der Mythologie sind Kolibris Botschafter der Liebe, des Lichts, der Hoffnung.

In Liselottes Zimmer sind Kolibris auf Vorhänge genäht, auf Wände gedruckt, auf Fenster geklebt.

Schillernd. Farbenfroh. Strahlend.

Liselotte liegt schon in ihrem Bett. Der Schultag war anstrengend gewesen, die Hausübungen schwer. Ihre gelbe Bettdecke mit rosa Blumen hat sie bis zum Hals gezogen. Ihre geflochtenen Zöpfe hat sie vor dem Hinlegen geöffnet, sodass ihre gewellten, braunen Haare auf dem blauen Polster mit dem grünen Streifen liegen. Müde wartet sie auf ihre Eltern und ihr gemeinsames Abendritual. Danken.

Nichts ist selbstverständlich – alles Geschenk, meint Liselottes Mama.

Die Kraft nicht ins Bitten, sondern ins Danken legen, meint Liselottes Mami.

Leise öffnet sich die Türe. Mit einem langen, dunkelblauen Plissee-Rock und einem weiten, weißen T-Shirt kommt ihre Mama als Erste ins Zimmer. Ihre dunkelbraunen Haare sind zu einem hohen Zopf gebunden, wobei schon einige Haarsträhnen lose auf ihre Schulter fallen.

Hinter ihr geht Mami, mit einem grünen Sommerkleid mit weißen Punkten und einem breiten Haarreifen aus Samt in ihrem blonden, langen Haar.

Beide gehen barfuß und legen sich zu Lilo, ihrer Tochter. Mama, streicht ihr über die Haare: Lilo, erzähl. Was ist los mit dir? Du wirkst heute so traurig.

Da laufen Liselotte auch schon die Tränen über ihr Gesicht. Sie sagen, ihr seid komisch! Nicht lustig komisch, sondern blöd komisch.

Ist es denn blöd komisch, Eltern zu haben, die sich lieben?

Sie sagen, es ist schlimm, dass ihr mich habt.

Ist es schlimm, ein Kind zu haben, das man liebt?

Sie sagen, ihr würdet nicht wollen, dass ich mal einen Buben liebe.

Alles was zählt, Liselotte, ist die Liebe.

Liselottes Tränen werden weniger. Langsam beruhigt sie sich und kuschelt sich zu ihren Mamas. Sie ist so froh, bei ihnen zu sein. In den sicheren Armen ihrer Eltern sieht sie zu den Kolibris.

Danke an die Liebe, an das Licht, an die Hoffnung.