von Jamal Tuschick
Was zuvor geschah
Die Familie Steinbrecher hat sich fast vollständig in ihrem Luft- und Flussbad an der Enz versammelt. Die Anlage verdankt sich dem alten Anton Steinbrecher. Der große Organisator (und passionierte Reit- und Wassersportler) war in den 1950er Jahren die treibende Kraft beim Bau einer Singularität, deren Geheimtippcharakter bis in die Handlungsgegenwart bewahrt wurde.
So geht es weiter
Der Steinbrecher-Klan beansprucht vor Ort das Hausrecht. Für einen Steinbrecher gibt es kein Schlangestehen an der Pommesbude. „Unsere Ernährung bestimmt, wer wir sind“, behauptet Henry Mance. Der Journalist bezieht sich auf Feinberg & Mallatt, die eine Theorie entwickelten, nach der das Bewusstsein eine Funktion der Jagd ist. Das Bewusstsein kam ins Spiel, „damit die ersten Raubtiere ihre Beute erlegen und die ersten Beutetiere ihnen entkommen konnten“. Der Neurologe Todd Feinberg und der Evolutionsbiologe Jon Mallatt vertreten die Auffassung, dass alle Tiere mit einer Wirbelsäule „einen Erfahrungsbegriff haben“.
Bereits die ersten Wirbeltiere brauchten für ihre „hochauflösenden Facettenaugen“ eine Verarbeitungszentrale. Sie machten sich ein Bild von der Welt, im Prinzip nicht anders als wir. Mance spricht martialisch von einem „Wettrüsten“ mit der Vorgabe einen Vorsprung bei der „Verarbeitungsgeschwindigkeit“ herauszuschlagen.
Eine beinah unberührte Ursprünglichkeit säumt das Luft- und Flussbad im Spektrum zwischen Straßenranddschungel, Böschung und Luftwurzellabyrinth. Karibisch findet Keno die Augenblicksstimmung. Er verbirgt sich vor der Familienmeute im Unterholz.
Die verstohlene Kommunikation zwischen dem Lebensgefährten seiner Mutter und einer jungen Frau, die Keno täglich auf dem Hof seiner Großeltern sieht, entgeht dem Verborgenen nicht. Er beobachtet Iris mit dem irritierten Blick des Heranwachsenden am Ende der kindlichen Strecke. Unbegreifliche Empfindungen pflügen die inneren Schonungen.
Eben ist Doris über alle Barrieren hinausgeschwommen, ohne ihre Überschreitungen der Baderegeln auch nur realisiert zu haben. Zwar ist die ledige Yogalehrerin aus der Art geschlagen, aber eben doch ganz und gar eine Steinbrecherin, wenn es um Natur- und Bewegungsgenuss geht.
Doris legt den Badeanzug ab. Nichts stört ihre Ungezwungenheit. Sie ist die Unglückliche unter ihren Schwestern. Doch gibt es Momente seelischer Weite, die ihr ungewöhnliche Spielräume eröffnen. Sie ignoriert Raimunds heiß erwidertes Interesse an Iris. Ihre Leidenschaft hat den Nullpunkt unterschritten. Doris schließt die Augen und gibt sich einem Tagtraum hin. Mit einem Mann, der an ihren verflossenen vietnamesischen Liebhaber Binh erinnert, erlebt sie eine Kernschmelze.
Kontemplation und Ekstase.
© Jamal Tuschick 2024-05-19