von Andreas Trimmel
Früh am Morgen, im Dezember, ein Schultag. Ein ganz normales Wohnzimmer, dezent und aufwachfreundlich beleuchtet. Darin ein massiver Tisch, gezeichnet von vielen im Laufe der Zeit auf ihm detonierten Tassen und Tellern, zerfurcht von zahlreichen fehlgesteuerten und entglittenen Gabeln und Messern.
An einem Kopfende sitzt der Zehnjährige. Der Pyjama schlabbert an seinem drahtigen, dünnen Körper, das rechte Knie ragt vorwitzig über die Tischplatte hinaus, auf ihn stützt sich ein Ellbogen. Der rechte. Die dazugehörige Hand begreift ein Buch, das den Blick des Zehnjährigen hypnotisiert und gefangen hält. Die linke Hand ist von einem Brot mit Bissspuren okkupiert.
Ebenfalls im Raum, an einer der Längsseiten verharrend: Ein etwas mehr Jähriger, auch im Pyjama – ohne Schlabbern – , beide Beine am Boden. Sein Blick ist gesenkt. Eine Hand hält die Lektüre, die andere ist eine Verbindung mit einer Kaffeetasse eingegangen. Ein feiner Duft durchzieht den Raum. Es ist still. Gelegentlich ist ein leises Räuspern zu vernehmen, bisweilen auch ein dezentes Schlürfen. Dann durchbricht etwas Weltbewegendes die angenehme Stille:
M [nachdenklich]: „Europa und Nordamerika entfernen sich doch jedes Jahr um zwei Zentimeter voneinander, ja?“
A [in seine Lektüre vertieft; hellhörig, aber nicht hellwach]: „Kann sein.“
M [an seinem Brot kauend]: „Und die Erde ist noch immer rund, richtig?“
A [unverändert vertieft, nicht aufschauend]: „Soweit ich weiß schon.“
M [grübelnd, das angebissene Brot in Augenhöhe haltend und akribisch begutachtend]: „Da müssen sie doch auf der anderen Seite irgendwann mal wieder zusammenstoßen, Europa und Amerika.“
A [regungslos, ungenervt und nach wie vor in seine ganz offensichtlich spannende Lektüre vertieft]: „Irgendwann sicher, ja.“
M [lässt nicht locker, auch sein Brot nicht]: „Wann wird das sein?“
A [noch immer nicht genervt, aber mittlerweile hellwach]: „Rechne es Dir aus!“
M [weitergrübelnd; und testend, welche Schräglage das Brot verträgt, ohne seine Auflage zu verlieren]: „Wie?“
A [seufzt lautlos, legt sein Handy auf den Tisch und blickt auf]: „Also, am Äquator beträgt der Erdumfang rund 40.000 Kilometer.“
M [eifrig, nachdem er seinem Brot eine weitere Bisswunde zugefügt hat]: „Also 40.000 durch …“
Ich verrate ihm nicht, dass er sich noch ein wenig Zeit lassen kann, bis er aufbrechen muss, um bei diesem außergewöhnlichen Ereignis dabei zu sein. Und dass vor diesem Zusammenstoß noch ganz Asien und das vorgeschobene Japan zerquetscht werden müssen. Und dass sich beide wohl kaum widerstandslos ergeben und versenken werden, das verschweige ich auch mal. Soll er doch selbst drauf kommen.
© Andreas Trimmel 2020-12-22