Kopf-Bahnhof

Fabian Burstein

von Fabian Burstein

Story

Es gibt Unorte, die verdienen sich diese Einordnung nicht für das, was sie anrichten, sondern für das, was sie verdrängen. Der Wiener Hauptbahnhof ist so ein Fall. Es wäre ein Leichtes, sich über die Beliebigkeit dieser typischen „Bahnhof City“ zu beschweren. Würde ein Digital-Freak die Hauptbahnhöfe Wien und Berlin in einer virtuellen Welt vertauschen, es würde keinem auffallen. Überall dieselben Glaskobel, die „Modernität an der Schwelle zu Europa“ hinausposaunen. Überall dieselben Shoppingmeilen mit aufgebackenen Brezeln, Trafik-Souvenir-Lesestoff-Spielwaren-Mischmasch und Textilketten-Chic. Überall dieselbe Mär, dass die Menschen auf einem Bahnhof nicht nur verreisen, „sondern auch leben und arbeiten“ wollen.

Diese Art von gestalterischer Charakterlosigkeit ist unerfreulich, aber nicht Unort-würdig. Was dem Wiener Hauptbahnhof wirklich anzukreiden ist: Er hat den 1956 eröffneten Wiener Südbahnhof verdrängt. Heinrich Hrdlicka plante dieses Juwel der schmucklosen Funktionalität. In den Geschichtsbüchern taucht der Mann nicht als gefeierter Architekt oder als Vertreter irgendeiner Wiener Schule auf. Heinrich Hrdlicka war „Zentralinspektor“ in der Bauabteilung der Österreichischen Bundesbahnen. Offenbar inspizierte er in dieser Funktion auch die Wiener Seele. Denn der Südbahnhof kann ohne weiteres als lokales Sittenbild bezeichnet werden. Gemäß der Selbstwahrnehmung als „Stadt im Herzen Europas“ ließ der Wiener Südbahnhof seine Rolle als Ostbahnhof konsequent unter den Tisch fallen. Südostbahnhof? Wer so einen Namen zulässt, darf sich nicht wundern, wenn er als „Tor zum Balkan“ gilt. Heinrich Hrdlicka entlarvte den Etikettenschwindel. Seine Verbannung von Neorenaissance und Gründerzeit-Eleganz schreckte das repräsentative Wien ab. Ein Zentralinspektor hatte die Lockfunktion der schönen Fassaden abgeschafft. Die feinen Leute brachen fortan gehetzt und mit einem Naserümpfen nach Triest auf. Den frei gewordenen Raum holte sich das andere Wien.

Das Wien der Trinker, die vor ihrem Alltag in die Bahnhofcafés flüchteten und das Wien der Heimweh-Geplagten, die ihre Flucht vor den Eisernen Vorhang gerne beendet hätten. Das Wien der drittklassigen Imbisse mit erstklassiger Bosna und das Wien der mittelmäßigen Tabak-Trafiken mit letztklassigem Zeitungssortiment. Das Wien der unbesetzten Ticket-Schalter („Bin in Pause“) und das Wien der vollbesetzten Sitzbänke (schlafende Sandler). Am Südbahnhof war Wien zwar nicht Weltmetropole aber immerhin authentische Vielvölkerstadt. Am Südbahnhof war die Balkanroute noch kein rechtes Reizwort, sondern eine Lebensrealität, die den unterdimensionierten Busbahnhof jeden Freitag zum Glühen gebracht hat.

Es soll sein Ruf als Unort gewesen sein, der das Ende des Südbahnhofs einst einläutete. Mit ihm starb auch ein Kopfbahnhof, der seinem Namen alle Ehre machte: Die Abenteuer fanden hier ausschließlich im Kopf statt.

© Fabian Burstein 2021-07-16

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