Kopfloser Engel

Judith Lahfeld

von Judith Lahfeld

Story

An mir ist eine hervorragende Kriminalbeamtin verloren gegangen. Ich hatte im Leben schon viele Berufswünsche. Einst wollte ich Hebamme werden, später Pferdewirtin. Zwischendurch träumte ich ganz bescheiden von einem Leben als Rockstar und übte mich in Fotografie. Man weiß ja nie, wann man sowas nochmal braucht.

Verbrechen jedoch haben schon immer eine große Faszination auf mich ausgeübt. Es begann bereits in frühester Kindheit, als ich meine anderthalb Jahre alte kleinere Cousine verdächtigte, meinen großen Lolli gestohlen zu haben. Der Verdacht war berechtigt. Ich fand den Lolli in ihrem Rucksack, der dummerweise auch noch in der Mitte zerbrochen war. Ein knallharter Kollateralschaden. Nicht nur der Lolli wurde damals von ihr umgelagert, sondern auch das rosafarbene Puppenkleid, das meine Mutter genäht hatte. Ein Glück konnte mein Spürsinn dieses Diebstahldelikt rechtzeitig verhindern.

Eine gute Verkehrspolizistin wäre ich sicher nie geworden. Ich besaß auch eine bildschöne Harley Davidson mit kleinen ledernen Seitentaschen für meine Barbie. Als mein Cousin eines Tages versuchte, sich auf das Gefährt draufzusetzen, brach sie mit einem hohlen Knacken in der Mitte durch. Ich regelte diesen Verkehrsunfall wenig diplomatisch, sondern weinte große Krokodilstränen. Vermutlich würde mich das auf den Straßen von Berlin zwischen den Bandidos und Hells Angels nicht sehr weit bringen.

Fernsehtechnisch besitze ich einen großen Wissensschatz. Oft schaue ich mir nur die ersten Minuten des Films an und verdächtige sofort die richtige Person. Ich habe eine gute Beobachtungsgabe. Auch behaupte ich, stets das “Final Girl” zu sein, also die Person, die am Ende übrig bleibt. Welcher Honk geht denn bitte auf den Dachboden, wenn der Strom ausgefallen ist und man seltsame Geräusche hört?

Auch im Alltag macht sich das bemerkbar. Immerhin sieht die Küche oft schlimmer als, als jeder denkbare Schauplatz für einen Tatortreiniger. Gerade jetzt, wo mein Einjähriger mit den Fingern isst und Weitwurf mit Spaghetti praktiziert. Ich muss auch heftige Streits schlichten und Zeugenvernehmungen durchführen. Glaubt mir, unsere Vierjährige flunkert manchmal wie verrückt, wenn es um die Vertuschung einer Straftat geht. So hat sie definitiv nicht heimlich Schokolade gegessen. Das leere Schokoladenpapier ist von Zauberhand auf dem Boden gelandet. Der Fernseher ist rein zufällig angegangen und glücklicherweise lief ihre Lieblingsserie auf Prime. Die langen Haarsträhnen hinterm Sessel sind plötzlich von ihrem Kopf gefallen und haben nichts mit der danebenliegenden Bastelschere zu tun.

Das mit „Guter Cop, böser Cop“ habe ich sowieso mega gut drauf. Gerade dann, wenn mein Mann mal wieder etwas angestellt hat oder ihm ein Missgeschick passiert ist. Ich finde immer heraus, wer versehentlich meinen Lieblingsteller zerbrochen oder meinen Porzellan-Engel geköpft hat. Möge er noch so tief in der Mülltüte begraben sein.

© Judith Lahfeld 2023-01-05

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