von Sonja M. Winkler
Keine Worte find ich. Aber ich sollte. Denn Augusto M. sagte am Freitag, wir mögen doch die Botschaft hinaustragen. Warum schweigen. Warum nicht anderen erzählen. In Spanien hat Biodanza längst Eingang gefunden ins Gesundheitssystem. In Berlin tanzt man sogar im Gefängnis. Biodanza soll den Insassen bei der Resozialisierung helfen. Und bei uns? Wenn ich Biodanza erwähne, machen alle große Augen. Noch nie etwas davon gehört.
Die Pandemie hat körpernahe Gruppenaktivitäten zwei Jahre lahmgelegt. Ich bin fast nahtlos zu einem anderen Ausdrucksmedium übergewechselt, dem Schreiben.
Aber seit Herbst tanze ich wieder. Wenn ich tanze, bin ich jung.
Ich möchte in Worte fassen, wofür es keine Worte gibt. Ich müsste tanzen. Müsste Musik in mich hineinlassen, mich bewegen, und mein Körper würde sprechen.
Eine lange Geschichte, wie ich zu Biodanza kam. 18 Jahre ist’s her. Vorher hab ich bauchgetanzt. Dann war Veränderung nötig.
Ich machte die 3-jährige Ausbildung, erforschte tanzend mein Inneres, schrieb alles nieder, was ich fühlte und erlebte, was sich mir an alten Prägungen in den Weg stellte und aus dem Weg geräumt werden wollte.
Ich lernte ihn noch kennen, den Begründer von Biodanza. Ich habe Rolando Toro (1924 – 2010) als alten Mann noch tanzen sehen, den in Chile geborenen Dichter, Psychologen und Wissenschaftler. Er hat sich intensiv damit auseinandergesetzt, was Musik in uns auslöst. Nicht irgendeine Musik, sondern ausgewählte Stücke, die er an Menschen erprobte. Er erforschte, wie verschiedene Melodien auf die seelische Gestimmtheit wirken, zu welchen Bewegungen sie uns veranlassen.
Als ich das erste Mal „Europa“ von Gato Barbieri hörte, Gänsehaut. Integrative Elastizität, so nannte Rolando Toro die Übung. Zu Boden sinken, sich räkeln, dehnen. Wenn das Saxophon die ersten Töne schmettert, in die Länge zieht, kriecht ein Schauer meine Arme entlang. Immer noch. Mit derselben Intensität des ersten Mals. Kräuselt die Haut. Genuss, eingeschrieben in jede Körperzelle. Dehnen, wachsen, in die Langsamkeit eintauchen. Mich der Musik hingeben. Und alles rundherum vergessen. Kein Instrument kann Erotik so gut ausdrücken wie das Saxophon.
Biodanza wird weltweit getanzt. Egal, in welcher Stadt man auch ist, in einer Biodanza-Gruppe ist jede*r willkommen. Weil das System non-verbal ist. Weil der Neocortex Pause hat. Eineinhalb Stunden lang darf die Seele erleben. Tanzen und schweben.
2019 war ich in Rom. Vor Reiseantritt recherchierte ich, wann und wo in der Ewigen Stadt Wochengruppen stattfinden. Und ich habe auch in Rom getanzt.
Vergangenes Wochenende hat der neue Ausbildungszyklus begonnen. Augusto M., geboren in Brasilien, Biodanza-Anleiter in Spanien, spricht von sinuosidade und macht sich locker. Er hat ein bewegliches Becken mitgebracht. Er lässt Hüfte und Hände sprechen.
© Sonja M. Winkler 2023-02-20