Kraniche am Kamo

Christine Sollerer-Schnaiter

von Christine Sollerer-Schnaiter

Story
Japan 2023

Irgendwann bin ich tatsächlich am Fluss gelandet. ‚Immer geradeaus und ihr kommt zum Kamo und über die Brücke ins Gion, das Geishaviertel von Kyoto‚, hatte uns die Reiseleiterin empfohlen. Lange bin ich eine Querstraße gegangen und kein Ende war in Sicht. Eine große Kreuzung verwirrte mich völlig und da hörte ich neben all dem Lärm plötzlich ein Geschnarre und Geflatter in der Luft. Ich schaute nach oben und sah etwas Unglaubliches – ein Geschwader von Kranichen flog über mich. Niemand sonst schien sie zu bemerken. Gebannt folgte ich ihrem Flug. Hinter der nächsten Biegung verebbte der Straßenverkehr und ich war in einer schmalen Gasse mit bezaubernden Laternen gelandet. Auf einer Seite hohe Stadthäuser, auf der anderen alte Holzhäuschen – ein ‚Izakaya‚ neben dem anderen. Aber noch hatten die Kraniche meine ganze Aufmerksamkeit. Sie saßen auf den Telefon- und Stromdrähten, von denen ein Gewirr die Stadt überzieht, denn alle Leitungen verlaufen oberirdisch wegen der Erdbeben. Fasziniert beobachtete ich ihre Streitereien – unter lautem Geschrei ein Aufscheuchen, ein Geflatter, wieder hinsetzen, das weiße Gefieder spreizen. Mächtig die großen Schwingen und der scharfe Schnabel und doch so elegant und graziös. Kein Wunder, dass mich ein Glücksgefühl überkam und ich mich nicht sattsehen konnte, bis die Dunkelheit hereinbrach und es plötzlich still wurde. Kraniche sind Glücksbringer in Japan und ich fühlte mich reich beschenkt. Seit diesem Erlebnis schätze ich mich doppelt glücklich, weil ich gefaltete Kraniche von meinen Enkeltöchtern mein Eigen nenne.

Hungrig und durstig suchte ich ein kleines Restaurant auf, das sich in einer Terrasse zum Kamo hin öffnete. Die rosa Abendwölkchen und die tausend Lichter spiegelten sich im Fluss. Wie immer aß ich ein Reisgericht mit irgendeiner Sauce und es schmeckte wie immer köstlich. Ein Glas japanischen Weins rundete den Genuss ab. Langsam spazierte ich am Ufer zurück bis zur Brücke. Kurz überlegte ich, soll ich es wagen, doch noch die andere Seite, das alte Stadtviertel ‚Gion‘ zu erkunden, wo sich die berühmten Geisha-Schulen befinden? Auf halbem Weg über der Brücke huschte – und ich traute meinen Augen nicht – eine Geisha vorbei. Wunderschön in ihrem Seidenkimono und den hohen Holzsandalen, kunstvoll geschminkt und die schwarzen Haare zu einem Dutt gestylt. Mehr kann man von einem Abend nicht erwarten und so kehrte ich um und hatte noch einen weiten Weg zum Hotel – mit einigen Verirrungen.

Der Kranich gilt in Japan als heiliger Vogel und steht für Treue, Glück, Liebe und Unsterblichkeit bzw. für ein langes Leben. Sie bleiben ein Leben lang bei einem Partner. Das erste Origami, das Kinder lernen, ist oft das des Kranichs. Wenn man 1000 davon zu einer Girlande faltet, soll das bei der Heilung von Krankheiten helfen – so ist die Überlieferung. Vielleicht kennt ihr die Geschichte von dem leukämiekranken Mädchen aus Hiroshima – Sadako Sasaki? Sie faltete mehr als tausend Kraniche mit dem innigen Wunsch gesund zu werden. Ganz Japan und die halbe Welt nahm Anteil. Leider ist sie doch gestorben. Seitdem ist der Kranich auch ein Symbol des Friedens und der Abrüstung. Kraniche sind vom Aussterben bedroht! Kraniche bleibt bei uns – Kriege mögen aussterben!

© Christine Sollerer-Schnaiter 2023-12-02

Genres
Romane & Erzählungen, Reise
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Informativ, Inspirierend, Mysteriös