von Georg Rejam
3:17. Ing. Herbeck wurde aus dem Schlaf gerissen. Es war kein Albtraum, sondern ganz real dieses Schreien. Die Geburt seines Sohnes Liam hatte alle seine optimierten Prozesse und Routinen durcheinandergebracht. Das Baby füttern, das Baby stillen, das Baby liebkosen. Seit mehr als sechs Monaten hatte dies nun schon höchste strategische Priorität, für seine Frau. Aber heute war er zuständig. Ing. Herbeck war sofort wach. Er torkelte zum Gitterbett.
In jungen Jahren steckt man das alles viel leichter weg, hatte Ing. Herbeck seinem besten Arbeitskollegen, dem Strunz, erzählt. Aber mit über vierzig sieht die Sache schon ein wenig anders aus. Das zerrt ganz schön an den Nerven und an der Substanz. Genau dieser Strunz hatte Ing. Herbeck dann ein Kaffeehäferl mit dem knappen Schriftzug: Endlich Papa geschenkt. Darüber war die Zeichnung eines total übermüdeten jungen Mannes mit tiefen Ringen unter den Augen positioniert. Jedes Mal, wenn Ing. Herbeck seinen Kaffee trank, musste er an Maria und an zu Hause denken. Und an ihre schlaflosen, anstrengenden Nächte mit Liam. Er schlief gewöhnlich durch, die ganze Nacht. Die akustischen Empfangseinstellungen von Männern sind da einfach anders justiert. Unsensibel eben, hatte Maria letztens einer Freundin gegenüber gescherzt. Oder war es doch eine versteckte Anklage gewesen? Manchmal hatte er ein schlechtes Gewissen, wenn er in einem seiner Quality-Meetings saß, über Kundenorientierung und Qualitätskriterien diskutierte. Dann musste er immer nachrechnen, wie oft er in diesem Monat bereits vor seinem schreienden Zwerg ins Wohnzimmer geflüchtet war, um in Ruhe schlafen zu können. Und was ihm am meisten beschäftigte, war die Frage: Ist unser Baby eigentlich unserer Kunde? Und müssen wir als Eltern immer und sofort alle Erwartungen bedingungslos erfüllen?
Für die Feiertage hatte er den Nachtdienst übernommen. Gestern hatte alles super funktioniert. Kein Mucks, kein Schrei, rein gar nichts. Eine wirklich ruhige Nacht. Ganz im Gegenteil zu heute. Vielleicht war ja Vollmond? Dreimal war er schon aufgestanden, um den Schnuller im Bett zu suchen, ihn schließlich zärtlich in das schreiende Gesicht zu stecken und so seinen Sohn wieder zu besänftigen. Zufrieden war er jedes Mal nach erfolgreicher Arbeit zurück ins warme Bett gekrochen. Und jedes Mal spürte er, dass Maria wach war. Dennoch tat sie so, als schliefe sie entspannt und sorglos.
Diesmal fand Ing. Herbeck den Schnuller nicht. Nicht gleich und auch nicht nach systematischer Suche. Doch darauf war er als Qualitätsmanager vorbereitet. Er nahm einen Ersatz-Lulli vom Tisch. Keinesfalls wollte er riskieren, dass der schnuller-lose Zustand durch zu langes Suchen zur Eskalation führe. War Liam einmal wirklich wach und fing hysterisch zu schreien an, so war eine schnelle Beruhigung kaum noch möglich. Der beste Konflikt ist eben der, der gar nicht erst entsteht, sagte Ing. Herbeck gerne in Besprechungen.
…
© Georg Rejam 2021-01-03