von Clemens Anwander
Tief atmet Kapitän Severin Lang in sein mit Parfum beträufeltes Tuch, welches er als Atemschutz vor die Nase gebunden hat. Warum muss ihm das nur alles passieren? Ihm, dem Hoffnungsträger der Kreuzfahrt-Industrie. Jung, charismatisch, gutaussehend und mit all den richtigen Personen bekannt.
Seine eigentliche Bestimmung ist, die gesamte Branche zu revolutionieren und sie einer völlig neuen Gesellschaft vorzuführen. Vorbei die Zeit, als Schiffsfahrten nur was für Pensionisten waren – ganz im Gegenteil, sein Traum ist es Kreuzfahrten zu einem Szene-Treff der Jungen zu machen. Doch jetzt droht seine Vision durch diesen Messerstecher zu scheitern. Eine Träne rollt über Severins Wange. Das ist so unfair! Enttäuscht blickt er über die Reihen an Leichen – es ist ein einziges PR-Desaster!
Er weiß nicht, was er tun soll. Die Maßnahmen zeigen zwar Wirkung, die Zahl der Opfer geht zurück. Aber die Leute sind wütend, sie wollen feiern. Sie wollen was er ihnen versprochen hat – ein Party-Schiff der Extra-Klasse und keinen Quasi-Hausarrest in der eigenen Kabine.
Er gibt es nicht gern zu, aber er braucht wohl den Rat eines anderen Kapitäns. Er würde wohl wieder mit ihr Kontakt aufnehmen müssen, obwohl er sich eigentlich geschworen hat, sich auf seinem eigenen Schiff nichts mehr von ihr dreinreden zu lassen. Mit schlurfenden Schritten lässt er den deprimierenden, stinkenden, zur Aufbahrungshalle umfunktionierten Frachtraum hinter sich.
Verdrossen schreitet er durch die verlassenen Gänge. Es wäre eine wunderschöne, lauwarme Nacht und um diese Zeit hätte das Schiff nur so von Feiernden wimmeln sollen. Ihm ist bewusst, dass der Zorn, die Enttäuschung und die Angst der Kreuzfahrer von Tag zu Tag größer werden.
© Clemens Anwander 2021-07-01