Kristallviolett

LucieBach

von LucieBach

Story

Seit ich von Kristallviolett gelesen hatte, wünschte ich mir diese gold glänzenden Nadeln heimlich. Werden sie in Wasser aufgelöst, tauchen sie alles in ein schweres Lila. Sogar Bakterien lassen sich mit Kristallviolett einfärben. Negative Bakterien werden mit Alkohol wieder entfärbt, weil sie nur eine dünne Zellwand besitzen, aber die dickwandigen positiven Bakterien bleiben lila. Die ganze Welt wollte ich mit Kristallviolett einfärben, um endlich zu wissen, was richtig und was falsch ist. Obwohl mir die Eltern nämlich schlecht vorkamen, konnten sie es nicht sein, weil sie meine Eltern waren. Mutter besaß sicher Kristallviolett, denn mithilfe ihres Rotweins konnte sie gut und böse glasklar voneinander trennen:

„Du hast mich angelogen, ein schlechtes Kind bist du.“

Wahrscheinlich lag Mutter richtig und ich war diejenige, die verkehrt war. Meine Geschwister behaupteten jedenfalls, ich heule bereits, bevor ich den Boden berühre. Ich beobachtete mich selbst im Fall, aber es ging zu schnell, schon lag ich wieder am Boden und schrie. Falls meine Geschwister recht hatten, besaß ich nur eine dünne Wand und war wirklich eine Negative, die sich mit Mutters Alkohol entfärben ließ. Natürlich hatten meine Geschwister recht. Dabei hätte ich alles dafür getan, violett zu bleiben wie meine Geschwister, kristallviolett wie Mutter.

Ich war sieben Jahre alt und das, was die Leute im Dorf eine Prinzessin nannten.

„Doch, das kann Kristallviolett“, entgegnete ich meinen Urvätern, die mich von den Leinwänden aus in jedem Winkel des Gutshauses niederstarrten. Die machten mir keine Angst, auch nicht mein Heimweg durch die einsame dunkle Allee. Selbst in pechschwarzer Nacht fĂĽhrte der helle Streifen zwischen den Bäumen am Himmel mich nach Hause. Nur von Mutters Schritte wurde ich starr. Ich hatte gelernt, sie bereits aus weiter Ferne von denen meines Vaters und meiner Geschwister zu unterscheiden. Hart und unerbittlich klangen sie und wann immer sie sich mir näherten, fĂĽhlte ich mich nicht wie eine Prinzessin, sondern rabenschwarz.

Ich besaß zwar kein Kristallviolett, aber angeblich blaues Blut, obwohl es rot aus meinen Wunden floss. Vater war Freiherr und ich keine Prinzessin, sondern bloß eine Freiin. Sollte ich einmal heiraten und meinen Namen behalten, würde ich eine Freifrau werden, aber diesen Titel würde der Adelsverein nicht anerkennen. Im Gegensatz dazu waren meine Brüder als Freiherren geboren worden. Dementsprechend waren für die Hausarbeit nur wir Mädchen zuständig.

„Schön machst du das, meine fleißige Tochter,“ sagte Mutter, wenn ich Kartoffeln schälte und legte ihre kristallvioletten Hände auf meinen Schultern ab. So war das nun einmal in durchlauchten Kreisen. Wir halten für Normalität, was uns umgibt. Jahre später erfuhr ich, dass Kristallviolett ein starkes Zellgift ist und Krebs verursacht, doch da hatte es meine Zellen längst befallen und mein Blut für immer blau gefärbt. Adel vergiftet.

© LucieBach 2022-11-24

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