Kuchen im Wald

Constantin Tartarone

von Constantin Tartarone

Story

Im Park hinter den Gärten und der Allee des Palasts lag die Grenze zum Wald oder dem Feenreich, wie ihn die Kinder nannten. Zwischen Büschen und Efeu, Farnwendeln und Eiben führte ein holpriger Pfad vorbei an Klippen und Bächen immer weiter ins Herz des Hains. Er war verwunschen und an manchen Stellen verflucht, pflegten die Alten zu sagen. Sich Geschichten über Dörfer erzählend, die im sickernden Moor des Waldes vom Sumpf verschlungen worden sein sollen. Von den Einhörnern und den Kobolden unter dem giftigen Efeu, das an moosbewachsenen Ruinen entlang wucherte. Und sie hatten ja auch recht. Der Wald war tatsächlich etwas ganz Besonderes. Ein wilder Garten voll von Wundern und Gefahren. Ein letztes Überbleibsel von Magie, und keiner falschen Magie, die man nutzte, um Hasen aus Zylindern zu ziehen. Echte, lebendige Magie. Die Flüsse, bewohnt von dicken Barschen und winzigen Krabben, die sich im glänzenden Sand vergruben. Schimmernde Mooshügel, die im Wind zu atmen, zu leben schienen. Raben und Eulen, die über die spitzen Baumkronen segelten. “Die schwebenden Wächter”, wie sie der Hase bezeichnete. Eine dicke, zitronengelbe Schleife um seine pralle Brust geschnürt. Ein marinblauer Mantel, in den er fest gewickelt war. Er hatte Kuchen gebacken und eine altrosa Tischdecke über den Tisch auf der Waldlichtung gespannt. Es schien Erdebeerkuchen mit einer süßlichen Creme aus Sahne und Kräutern zu sein. An das Tuch klammerten sich Wanzen und Fliegen von übernatürlicher Größe. So groß und rau wie die Hand eines Mannes. Eine Spur von Magie, die ihnen jene Größe verliehen hatte. Auf dem Stuhl vor dem zweiten Kuchen, einer gestopft mit Blaubeeren und Blütern, thronte ein blasses Mädchen. Ihre Lippen kirschrot, das Haar rötlich und geglättet wie die Haut eines Aals. Das Korsett, um ihre zierliche Taille gebunden, war von unzähligen Knöpfen, Haken und Maschen geschmückt, die ihr die Luft erbarmungslos abzwickten. Ein rabenschwarzes Tuch streckte sich um ihre Augen und verdunkelte ihre Sicht. Alles, was sie nunmehr empfand, waren Geräusche und der modrige Geruch der Grasbüschel. Und der Geschmack. Der Geschmack der klebrigen Torte in ihrem Mund. Vielleicht war auch er verzaubert, denn im ersten Moment schmeckte er süß, dann scharf, dann bitter, vermischt mit trocken und anschließend salzig. Ein Funke Magie in seiner Kruste. Ein Funke Magie, den auch die Sträucher um die Lichtung teilten. Ein Spritzer von Zauber, der zwischen der Rinde der Bäume nagte. Eine Prise Hexerei am Grund des Weihers. Ein Tropfen Geheimnisse hinter den Wurzeln der Linde, die aus dem Kirchturm der verwahrlosten Kapelle ragte. Und ein Klecks Abenteuer im Kuchen des Hasen.

© Constantin Tartarone 2021-05-10

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