Kulissengiraffe

alia

von alia

Story

Fassungslos stand ich vor der Bar namens Bumsen. Zwei Häuser weiter, das andere gastronomische Angebot des Skiorts, in dem wir gestrandet waren: die Bierapotheke. Ich wollte sofort wieder umdrehen. Zurück ins Apartment, zurück aufs Sofa, zurück zu den letzten 20 Minuten Tatort, in denen der Kommissar mit den privaten Problemen die Mörderin mit dem beruflichen Motiv verhaftet. Doch Can wiederholte nur den Satz, mit dem sie mich überhaupt erst aus dem Haus gelockt hatte: „Wann sind wir beide zuletzt zusammen an einem Tresen gesessen?“ Eine rhetorische Frage. Wir wussten beide ganz genau wann.

Es war die Nacht mit der Kulissengiraffe. Wir hatten sie auf einer Premierenparty entdeckt, auf der wir eher durch Zufall und wegen der kostenlosen Getränke gelandet waren. Eine Bühnenbildnerin erzählte uns unsympathisch stolz, dass ihre Praktikantin nächtelang Tiere aus Pappe für ein aufwendiges Schattenspiel gebastelt hatte – nur um zwei Tage vor der Aufführung zu erfahren, dass der Regisseur sich doch “was mit Konfetti” wünschte. So fanden die Tiere ein trauriges Ende als Partydeko, zu flach für Piñatas, zu farblos für einen dauerhaften Platz im Theaterfoyer.

Uns taten die Pappgestalten fast so leid wie die Praktikantin, die missmutig in einer Ecke stand. Letzterer konnten wir nicht helfen. Die Berliner Theaterszene hat weder Herz noch Gehalt für zarte Seelen. Für die Giraffe am Treppengeländer sahen wir jedoch Hoffnung: auf ein besseres Leben, weit weg von Kudamm und Co. Wir tranken uns Mut an und schmiedeten einen Plan. Zugegeben, Plan ist vielleicht ein großes Wort für abmachen und abhauen, aber am Ende saßen wir in der Ringbahn: Can, die Giraffe und ich. Wir fühlten uns wie in einem dieser BVG-Werbespots.

Ihr neues Leben in Freiheit begann die Giraffe im Magendoktor, dessen Name mich seltsamerweise nie gestört hat. Aber diese Kneipe, das war Berlin-Wedding. 24 Stunden geöffnet, sieben Tage die Woche, seit den 70er-Jahren, heißt es. Den Zimmerpflanzen vor der verstaubten Fensterscheibe kaufte man diese Zahlen sofort ab. Und der Kontrast zu der cleanen Premierenparty hätte nicht stärker sein können. Wir stiegen von Prosecco auf Schultheiss um, bestellten drei Korn dazu. Einen für die Giraffe. Ein perfekter Ort für sie, mitten in einem Bezirk, dessen großer Durchbruch schon seit Jahren von allen möglichen Trendsettern vorhergesagt wird – und der irgendwie doch nie kommt. Can und ich verbrachten Stunden an dieser Theke und das Papptier Jahre in unserer WG-Küche. Im Müll landete es erst, als wir auseinanderzogen, hinein in die Erwachsenenleben, über die wir im Magendoktor gemutmaßt und gelästert hatten.

Ich erinnerte mich an den tragisch-komischen Moment, als wir den Giraffenkopf nur mit Müh und Not in die Papiertonne stopfen konnten. Und folgte Can in die Bierapotheke.

© alia 2022-01-21

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