von Murph
Als wir bei meiner Mutter ankamen war sie so glücklich, wie sie auch überrascht war. „Wie kommt ihr denn hier hin? Ist jemand mit euch gekommen?“, fragte meine Mutter und sah sich um, ob jemand hinter uns an der Tür stand. „Nein, Abi und ich sind ganz alleine hier hingekommen“, antwortete ich stolz und konnte es nicht fassen, dass wir bei ihr waren. Ich hielt sie so fest und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Mein Bruder und ich konnten unser Glück gar nicht fassen, gleichzeitig waren wir so stolz wirklich den richtigen Weg gefunden zu haben. Jedoch war meine Mutter voller gemischter Gefühle. Sie wusste, dass die Aufsichtspflicht von zwei kleinen Kindern verletzt wurde. Die Erzieher hatten keine Rücksprache mit der Familie gehalten, zu der wir angeblich gehen sollten. Weder hatten die nach einem Ansprechpartner gefragt, noch hatten die sich darum gekümmert, dass zwei kleine Kinder sicher an ihrem Zielort ankamen. Mein Bruder war in der 2. Klasse und ich war noch im Kindergarten, und trotzdem hatte man uns zwei alleine losgeschickt. Meine Mutter war sauer. „Wie konnte es geschehen, dass meine Kinder völlig alleine durch die komplette Stadt laufen? Wieso hat niemand überprüft, wo die zwei hingehen und dass sie sicher ankommen?“, sie telefonierte und man konnte Wut und Verzweiflung aus ihrer Stimme hören. Ich war einfach nur glücklich, bei meiner Mutter angekommen zu sein. Wir durften auch den restlichen Tag noch bei ihr verbringen, bevor wir dann letztendlich abgeholt wurden. Wir wussten, dass wir am Ende des Tages wieder zurück zum Heim mussten, doch leicht viel es mir trotzdem nicht. Meine Mutter blieb noch ein paar weitere Wochen in dem Frauenhaus, nachdem sie die Erziehungsberechtigung für ihre Kinder verloren hatte. Doch sie hatte Probleme mit den Frauen, die dort arbeiteten, und verlor am Ende auch noch ihre Berechtigung dort zu wohnen. Aufgeschmissen, ohne Kinder, ohne Plan, kam meine Mutter in einer psychiatrischen Einrichtung unter. Ich weiß, dass sie dort nur als Notlösung unterkam, aber ich bin froh, dass sie dort war, denn ihre Psyche hatte extrem unter dem Geschehenen gelitten. Zumindest war sie vorübergehend in sicheren Händen. Ihr ganzes Leben hatte sie erst unter ihrer eigenen Familie gelitten, dann unter ihrem eigenen Ehemann. Nun litt sie darunter, das wichtigste, was sie im Leben hatte, verloren zu haben. Sie wurde in der besagten Einrichtung nicht medikamentös behandelt, aber man half dort, mit ihrer Schlafstörung und Depression umzugehen. Meine Mutter gab nicht auf und letztendlich wurde ihr die Möglichkeit eröffnet, in einer kleinen Wohnung direkt auf dem Gelände des Kinderheimes unterzukommen, in dem mein jüngerer Bruder untergekommen war. Er lebte dort nun schon mehrere Monate bevor meine Mutter zu ihm stieß. Meine Mutter hatte es geschafft zumindest einem ihrer Kinder nahe zu sein, aber ihre größte Priorität lag auch darin, ihr Baby zurückzubekommen. Das war die erste Hürde, die sie auf der Reise zu ihren Kindern meistern musste. Heute ist meine Mutter eine noch immer, hart arbeitende Frau. Meine meisten Geschwister und ich sind bereits ausgezogen und wieder zurückgezogen, aus den unterschiedlichsten Gründen. Wir sind alle noch auf unserem Weg, in dieser Welt ordentlich Fuß zu fassen, und dass ich immer noch nichts von dem zurückgeben konnte, was meine Mutter alles für uns geopfert hat, ist eine Last, die ich hoffe, durch diese Geschichte ausdrücken zu können.
© Murph 2023-10-25