Kunstbanause

MISERANDVS

von MISERANDVS

Story

Mit Feder und Papier kann ich ja ansatzweise gut umgehen. Mit Papier und Pinsel sieht das wieder ganz anders aus. Das Malen war nie meines. Ich habe schöne Motive im Kopf, was aber davon am Papier zu liegen kommt an Farblichem, hat nicht die geringste Ähnlichkeit damit. Ich würde anhand meiner offensichtlichen malerischen Unzulänglichkeit als Stümper aus jeder Kindergartengruppe verbannt werden, wo sie Farben mit blanken Händen auf Papier drücken. Denn selbst dazu wäre ich zu ungeschickt.

“Ich hab da was für dich.”, sagt Lydia und hockt sich zu mir aufs Bett. “Ein Geschenk?”, frage ich, während mir der Panikschweiß in die Kimme rinnt. Was hab ich vergessen? Erster Kuss? Geburtstag? Hochzeitstag? Ach, sind ja nicht verheiratet! Renoirs erste Ausstellung? Ich muss passen. “Ich dachte, das würde vielleicht an deine Wand passen.”, sagt sie etwas verlegen. Ich neige den Kopf erwartungsvoll. Dann enthülle ich das flache Kantige aus dem Pergament. Und ich halte ein gerahmtes Bild von Seerosen in Händen, das sie gemalt hat. Ich sehe es lange schweigend an. “Es gefällt dir nicht…”, flüstert sie leise. Ich lege meine Hand an ihre Wange, ziehe sie zu mir, küsse sie, schaue auf das Bild und sage: “Ich liebe es!” Lydia lächelt glücklich. Ich liebe es, dieses Bild! Und es hängt über meinem Bett, zusammen mit den beiden Kohlezeichnungen, die sie mir später noch geschenkt hat.

“Wir wissen, was Kunst ist! Das sind Bilder von Pferden!”, sagt Alec Baldwin in seiner aberwitzig genialen Rolle in “30 Rock”. Lydia überraschte mich immer wieder mit ihren zahllosen Talenten, Schönes zu schaffen. Sie tat das mit Worten in ihren Briefen, sie tat das mit Farben auf Papier, sie tat das mit ihrer Stimme, und gelegentlich tat sie das, indem sie nichts tat, sondern einfach nur sie selbst und wunderschön war – Kunst eben.

Lydia hatte zeitlebens am Kinn einen riesigen schwarzen Leberfleck, der ihr so verhasst war. Bevor wir uns trafen, ließ sie ihn wegoperieren. Davon blieben Narben, die sie dick mit Abdeckstift überpinselte. Sogar vor dem Zubettgehen. Entstellt sei sie, wie sie traurig sagte. Eines Abends hatte sie darauf vergessen. Da schreckte sie hoch: “Mein Fleck!”, und sie wollte ins Bad. Ich hielt sie zurück, zog sie an mich. Dann strich ich mit den Fingern über ihre Narben. Sie fasste meine Hand, sagte: “Nicht!” Als ich ihre Narben küsste, begann sie zu weinen. “Du bist grausam!”, schluchzte sie. “Ich bin verliebt.”, antwortete ich: “In alles an dir.” Sie drückte sich an mich. “Verrückt bist du!”, flüsterte sie. “Oh ja, nach dir!” Ich mochte die Narben an Lydias Kinn. Ich hab sie nie als Makel gesehen. Vielmehr als ein Detail, das sie besonders, einzigartig, das ihre Schönheit erst vollkommen machte. Und ich küsste die kleinen Narben immer, wenn sich die Gelegenheit ergab. Eines Tages lag der Abdeckstift im Müll. Und Lydia scheute sich nicht mehr, ihre Narben zu zeigen.

Kunst ist, was gefällt. Und Lydia ist Kunst in meinen Kunstbanausen-Augen.

© MISERANDVS 2021-04-02

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