Kurze Geschichte einer langen Liebe

Cornelia Hell

von Cornelia Hell

Story
Tytuvenai


Dachböden haben schon immer eine besondere Faszination auf mich ausgeübt. Geschichten sammeln – aber wie weit darf man in das Leben der anderen eindringen?

Schon als kleines Mädchen habe ich den Dachboden meiner Großeltern geliebt; unzählige verregnete Sommernachmittage habe ich dort verbracht, wenn wir im Sommer die Verwandten in Litauen besuchten. Viel Zeit bin ich vor dem Hochzeitskleid meiner Großmutter gestanden. Es war ein schulterfreies, bodenlanges Kleid, mit einem dazu passenden Schleier – beides mit dezentem Stickmuster. Als ich älter wurde, habe ich es oft anprobiert, ohne jemandem von meinem Dachboden-Geheimnis zu erzählen; dieser Ort war immer mein Geheimversteck. Bis zu jenem Nachmittag im Juli vor zwanzig Jahren, als mein Großvater Sachen auf den Dachboden gebracht hat. Meine Ähnlichkeit mit der Großmutter hat ihn kurz aus dem Konzept gebracht. An diesem Tag erzählte er mir die Geschichte, wie er meine Großmutter kennengelernt hatte; außerdem gab er mir den Schlüssel zu dem einzigen versperrten Schrank am Dachboden – ich musste ihm aber versprechen, diesen erst nach seinem Tod aufzusperren.

Meine Großeltern stammten beide aus Klaipėda, einer Hafenstadt in Litauen. Auch wir sind jeden Sommer dort hin gefahren; mein Großvater hat mir sogar das Haus gezeigt, in dem er mit meiner Großmutter gelebt hatte, ehe sie nach Tytuvėnai, ein überschaubares kleines Dorf, gezogen sind.


Mein Großvater sah meine Großmutter jeden Tag in einem kleinen Café, das auf seinem Weg zur Arbeit lag. Sie arbeitete im Café ihrer Eltern, obwohl sie lieber eine Ausbildung zur Kindergärtnerin gemacht hätte.


Mein Großvater hatte jeden Tag ein belegtes Brot gegessen und einen Kaffee getrunken; irgendwann begann er, meiner Großmutter kleine Briefe mit Gedichten zuzustecken. Eines Abends, als er am Heimweg war, sah er, wie meine Großmutter gerade dabei war, abzuschließen, und bot ihr seine Hilfe an. Daraus wurde eine Tradition. Bis er für ein Jahr ans andere Ende des Landes versetzt wurde; aus dieser Zeit stammen die schönsten Liebesbriefe, die ich jemals gelesen habe. Er hat über Liebe, Mut, Vertrauen und wirkliche Freiheit geschrieben.





Als er einige Tage früher als geplant zurückkam, wartete meine Großmutter schon vor dem Café auf ihn.


© Cornelia Hell 2025-04-27

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll
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