von Jette Lübeck
Als Kind wurden wir immer genötigt zumindest einmal am Tag rauszugehen und am Wochenende mit der ganzen Familie spazieren zu gehen. Meistens mussten wir nicht laufen, sondern durften uns ein Transportmittel unserer Wahl aussuchen. Hoch im Kurs standen bei mir die Inliner und später das Einrad, was ich mich selbst beigebracht hatte.
Ich erinnere mich an einen Spaziergang in Kassel, im Feld. Es war Frühling. Ich war mit Inlinern unterwegs und hatte die grandiose Idee, den langen, steilen Hügel erst mühselig hochzufahren, um dann die ganze Strecke wieder hinunterzufahren. Die Familie sollte unten warten. Die schmale asphaltierte Straße wirkte wie eine Skisprungschanze. Auf beiden Seiten waren matschige Felder. Und unten verlief orthogonal zu der Straße der Geilebach, über den eine unebene Betonbrücke führte, in die die Straße mündete.
Bevor ich mich auf den Aufstieg begab, warnte mein Papa mich, er könne mich nicht auffangen. Ich versicherte ihm, dass das sowieso nicht nötig sein werde.
Als ich nun dort oben stand und den Blick über die Felder streifen ließ, bekam ich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Der Hügel war doch steiler als ich dachte und wer einmal Inliner gefahren ist, der weiß, dass die Bremse an der Hacke nicht besonders wirkungsvoll ist, gerade bei hoher Geschwindigkeit.
Ich konzentrierte mich und fuhr an. Sofort als ich den Fuß nach vorne neigte, um die Bremse zu lösen, nahm ich an Fahrt auf und ehe ich mich versah, schoss ich mit einem Affenzahn den Hügel hinunter. Ich bekam Angst, denn ich wusste, Papa würde mich nicht auffangen und sobald ich die Betonbrücke erreichte, würde ich an den Schwellen hängen bleiben und mich hinlegen. Ich wurde immer schneller. Und geriet in Panik. Ich schrie, doch niemand konnte mir in dem Moment helfen. Meine Familie musste also hilflos zusehen, wie ich immer schneller wurde und unaufhaltsam den Hügel hinunterraste. Ihnen entgegen.
In meiner Panik entschied ich mich dann plötzlich, die Flucht ins Feld zu suchen. Ich verlagerte das Gewicht, sodass ich auf den linken Rand der Straße zurollte. Sobald die vorderen Rollen den matschigen Erdboden berührten, blieben sie darin stecken und ich flog bäuchlings in das matschige Gras. Meine hellblaue Reitjacke war komplett mit Erde und Gras eingesaut, aber ich hatte mich nicht verletzt. Nur erschrocken, weil ich nicht mit so einem abrupten Stopp gerechnet hatte. Als ich mich kurz wieder gesammelt hatte, machte ich mich dann seitwärts gehend auf den beschämenden Abstieg. Wie ein schmutziger begossener Pudel kam ich nach einiger Zeit unten an und wurde von meiner halb lachenden, halb besorgten Familie in Empfang genommen.
Papa sagte zu mir: „Keine Sorge, ich hätte dich schon aufgefangen.“ Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er die Wucht, mit der ich ihm in die Arme gefahren wäre, heil überstanden hätte.
So bin ich heil und mit einer nützlichen Erkenntnis aus der Sache rausgekommen. Nur meine hellblaue Weste musste dran glauben.
© Jette Lübeck 2023-03-12