von Melpomenius
Die Drahtglastüre der Videothek öffnete sich. Der Zigarettenrauch zog ins Freie, als würde der Raum atmen. Der Gestank aber blieb in den vergilbten Gardinen und im abstrakt gemusterten Teppichboden hängen. Auf diesem lag Michl. Neben der Vitrine mit den neusten Actionfilmen hatte er seine Mathehausübungen ausgebreitet. Er zerbrach sich den Kopf, während ein älterer Herr in schwarzer Lederjacke, zerrissenen Jeans und weißem Tanktop den Laden betrat. Er patzte sich heißen Käse auf seinen hängenden Bauch, als er gerade in eine heiße Käsleberkässemmel biss.
„Griaß di Gerti! Wie geht’s?“, bellte er mit halb vollem Mund. „Seavas Günther. Danke eh guad. Oba potz ma nix au sunst krochts! Wie geht’s deim Ausschlog?“, fragte sie ihre Zigarette ausdämpfend. „Dua ned so bled“, entgegnete er schelmisch grinsend, „seit heite in da fruah hod si nix recht vü verändert.“ Grinsend nahm sie die Anspielung auf die nicht stattgefundene nächtliche Vakanz ihres eigenen Bettes zur Kenntnis. „Michl! Dua nd so vü ein mal eins und hohl dem Günther de neichn Nockatn!“, rief Gertrude an den DVD-Regalen vorbei.
Michl blickte auf die drei im Teppich eingetrockneten Kaugummis, die ein Gesicht formten und flüsterte: „Kaugsi. Hilf mir. Ich will nicht in das dunkle Kammerl mit den Nockatn.“ „Stell di ned so an. Do jetzt is es ned viel heller wegen de Rauchschwaden vo deim Hausdrachen von Tante. Im Kammerl steht zwoa de Luft, aber es stinkt ned so wie do. Sei froh, dass du von do weg kaunnst und ned am Boden pickst so wie i“, sprach das Kaugummigesicht. Schnaufend erhob sich Michl und trottete im slalom durch die Regale durch den Fadenvorhang mit den Perlen – wenigstens das Geräusch mochte er.
Seit er lesen konnte, machte das Filme holen immerhin mehr Spaß. Er ging zum Regal mit den neuen Filmen und nahm zwei, die ihm sofort ins Auge sprangen. Der erste hieß „Die Prinzessin auf der Eichel“. Das Cover zeigte eine hübsche, brünette, junge Frau. Sie war gekleidet in durchsichtigem rotem Stoff, hatte ein Diadem auf dem Kopf und ein Zepter zwischen den Schenkeln, dessen Spitze sie mit beiden Händen umfassend ableckte. Michl mochte Prinzessinnen. Dornröschen war seine Lieblingsgeschichte.
Bevor er noch den zweiten Film näher betrachten konnte, ertönte es von vorne: „Wird’s jetzt boid amoi!“. Michl lief nach vorne und legte die Filme auf den Tresen, den Blick zu Boden gewandt, worauf er gleich zu seinen Hausaufgaben huschte. „Des is a guada bua Gerti. Sei ned zu hoat zu erm“, sprach GĂĽnther als er zu den Filmen griff, „und an guadn Gschmock hot a anscheinend a.“ Gertrude verzog das Gesicht und murmelte: „Jo oba seit mei Schwesta verschwunden is, muas i auf erm aufpassn. I woit jo nie Kinder und jetzt? I kaun ned amoi am Lack & Leder Ball geh. Jetzt darad ma mei Korsett endlich wieder passn. Und wer passt aufn Michl auf? Du?“ GĂĽnther schĂĽttelte den Kopf. “Des mocht 60 Schilling.“ Die Kasse klingelte und Kleingeld fiel in die Lade. „I pass auf di auf Michl. Des moch i”, sagte Kaugsi.
© Melpomenius 2021-11-28