von Nicole Richter
Die Gruppenstimmung schwankt: Von ausgelassener Heiterkeit bis komplett erschöpft scheint alles dabei zu sein. Die einen strahlen Tatendrang aus und haben offenbar das Holzhacken für sich entdeckt. Die anderen wirken froh, nach den zahlreichen Aktivitäten der letzten Wochen einen Vormittag am Feuer sitzend verbringen zu können. Vom Rest unserer Gruppe, der sich auf eine Wanderung zu einem nahegelegenen Wasserfall begeben hat, kommen bereits die Ersten, bis auf die Knochen durchnässt, zurück. Sie setzen sich zu uns ans Feuer, statt angelockt von der aufkommenden Lagerfeuerstimmung, geleitet von der Hoffnung Wärme zu finden, einen trockenen Platz in all dem Schnee.
Und während vereinzelt feuchte Socken gegen das Feuer gehalten werden, nasse Schuhe am Rand der Feuergrube stehen und sich im Hintergrund jemand über den Rauchgeruch beschwert, der in der Kleidung hängen bleibt, fragt eine Teilnehmerin unseren Guide nach seiner Sicht auf die Natur und den Menschen in ihr. Bevor er jedoch ihre Frage beantwortet, holt er sich das Einverständnis der Anwesenden ein, seinen Standpunkt teilen zu dürfen. Ob aus einer Art Höflichkeit, sich nicht aufzudrängen, oder dem Glauben, seine Weltsicht nicht auf unfruchtbaren Boden fallen zu lassen, lässt sich nicht sagen.
„Mensch und Natur stehen im Einklang. Wir sind voneinander abhängig, wobei das so nicht ganz stimmt. Der Mensch braucht die Natur. Die Natur hingegen kann ohne den Menschen gut sein.“
Man merkt, dass er mit der Fremdsprache hadert und sich lieber korrigiert, als seine Weltsicht nicht klar genug präsentieren zu können.
„Wir alle sind aus derselben Energie entstanden. Der Stein ist genauso mein Bruder, wie ihr meine Geschwister seid, so wie alles andere, was die Natur hervorgebracht hat.“
Wenn zu Beginn nicht alle begierig auf seine Ausführungen wirkten, so lassen seine Schilderungen nun manche die Stirn in Falten legen und andere, den Kopf auf ihre Hände gestützt, den Oberkörper nach vorne neigen. Die Szene ähnelt ganz jener von gestern Nacht, als das Wetter zu schlecht war, um nach Nordlichtern Ausschau zu halten. Geschichten von Bäumen, die man um Erlaubnis bitten sollte, bevor man sie fällt, und von Geistern in den Bergen, die den Weg nach Hause nicht finden.
„Wenn ich mich zu lange in der Stadt aufhalte, geht meine Verbindung zur Natur verloren. Und dann verliere ich Stück für Stück die Verbindung zu mir selbst.“
Viele in der Runde wirken nachdenklich, ich selbst bestürzt. Etwas wurde durch diese Aussage ausgelöst, angestupst und ins Rollen gebracht. Was genau, kann ich in diesem Moment selbst noch nicht sagen. Doch ich glaube nicht, dass man mir ansieht, was dieser Wortlaut mit mir macht.
Er sieht ins Feuer, ein Holzscheit knackt, ein kurzes Auflodern der Flammen, dann fährt er fort: „In der Natur zu sein, stellt Stück für Stück die Verbindung wieder her.“
Und plötzlich ist es, als ob mir jemand die Augen öffnet, für etwas, das ich vor langer Zeit vergessen hatte.
© Nicole Richter 2022-08-12