Lay Lady Lay

Paul Gumhalter

von Paul Gumhalter

Story

Ein Abend im August. Der Tag war sehr heiß gewesen, und die Stadt atmet noch die Hitze. Ich biege von der A22 auf die Reichsbrücke ein, die Auffahrt macht eine enge Kurve. Dann betätige ich den Blinker und ordne mich ein.

In diesem Augenblick singt Bob Dylan sein „Lay Lady Lay“ im Radio, ein Lied, das mich auf eine ganz eigene Weise verzaubert. Wenn ich dieses Lied höre, bleibt für ein paar Minuten die Zeit stehen. Die Lichter der Großstadt flimmern unter dem indigofarbenen Himmel, in der Ferne leuchtet die Kirche auf dem dunklen Schatten des Kahlenbergs.

Der Abend bei Mitsuko war wunderbar gewesen. Wir hatten zusammen zu Abend gegessen, Bier getrunken und gute Gespräche geführt. Eigentlich führt sie die Gespräche, ich höre zu. Nur hie und da muss ich einwenden: „Na geh, also Mitsuko, so ist das nicht, das ist doch anders.“ Ansonsten amüsiere ich mich insgeheim köstlich über ihr drolliges Deutsch. Mitsuko ist Japanerin. Sie lebt schon seit 15 Jahren in Wien, aber ihr Deutsch wird wohl immer so drollig bleiben, zu meinem heimlichen Vergnügen, mit seinen Grammatikfehlern, Endungsfehlern, Artikelfehlern. Ich hatte mit ihrem kleinen Sohn gespielt, war mit ihm auf dem Boden herumgetollt, und immer war das Gespräch mit ihr parallel dazu weitergegangen. Ich war gleichzeitig bei ihm und bei ihr, so als ob ich mich in zwei Personen geteilt hätte.

Plötzlich rollte der Ball ans andere Ende des Zimmers, der Sohn krabbelte ihm nach, ich blieb auf dem Boden in der Wohnküche sitzen, während Mitsuko sich mit dem Geschirr zu schaffen machte. In diesem Moment spürte ich plötzlich – zu meiner Verwunderung, denn zwischen ihr und mir war zuvor nie ein erotischer Moment gewesen – eine heftige Begierde. Ich kam mit meinen Gedanken durcheinander, wusste nicht mehr, was ich hatte sagen wollen, hörte auch gar nicht mehr, was sie gerade sagte. Ich hoffte nur, der Sohn würde lange wegbleiben, und ich könnte Mitsukos geraden, schlanken, kräftigen Körper bis ans Ende der Tage hier, von unten, von dieser Stelle aus, betrachten und bewundern und anbeten.

Eigentlich – jetzt im Auto fiel es mir wieder ein – war schon vor einigen Wochen zwischen uns überraschend Intimität entstanden. Beim Verabschieden, sie hatte ihren Sohn, der uns gebannt zusah, auf dem Arm, küssten wir uns leidenschaftlich. Am nächsten Tag, erzählte Mitsuko später, habe ihr Sohn beim Spazierengehen alle Hydranten unterwegs umarmt und geküsst!

Sie legte ihren Sohn zu Bett, ich setzte mich aufs Sofa und wartete, atmete, kam zur Ruhe. Ich musste eingeschlafen sein, denn plötzlich saß sie neben mir. Wir sahen uns an und erkannten uns.

Am Ende der Reichsbrücke ist die Ampel rot, wie immer. Manche Ampeln stehen immer auf Rot, egal wann und von welcher Richtung man kommt. Bob Dylans Stimme in diesem Lied klingt anders, tiefer, wie nach seinem Motorradunfall. Why wait any longer for the one you love, when he is standing in front of you?

© Paul Gumhalter 2020-07-17