Leben 2.0: Danke, Corona

Katja Wilhelm

von Katja Wilhelm

Story

Leben 2.0: Danke, Corona

Ich lese den Fragebogen, der vor mir liegt. Er ist umfangreich, 10 dicht bedruckte Seiten wollen so ziemlich alles über mein Leben wissen, was es zu wissen gibt.

Waren Sie jemals im Gefängnis?

Ja. Ich hatte bis vor kurzem die 40 Stunden-Woche.

Sind Sie jemals der Prostitution nachgegangen?

Als Frau müsste ich ehrlicherweise auch hier „Ja“ ankreuzen. Jemandem was vorspielen muss man im Berufsleben ständig. Miese Entscheidungen für gut befinden zum Beispiel. Inkompetenz der Vorgesetzten ignorieren und kompensieren. Über schlechte Witze lachen vom Boss kostet auf Dauer mindestens gleich viel Überwindung wie mit ihm ins Bett zu gehen. Letzteres würde wenigstens schweigend verlaufen und schneller vorbei sein.

Den Fragebogen fülle ich für das Plasma-Zentrum aus. Ich lasse mich erstmals als Spenderin registrieren. Der Grund: das schnöde Geld. Ich habe beschlossen, dass es mir reicht. Zwar vielleicht nicht endgültig, aber zumindest mal vorübergehend. Nach 11 Jahren Tristesse bei sehr guter Bezahlung, jedoch ohne jegliche Perspektive, wage ich den Neuanfang.

Anstatt von Existenzängsten geplagt zu sein, fühle ich mich wie der Graf von Monte Cristo in jener legendären Szene, als er unter Wasser den Leichensack aufschneidet und mit letzter Kraft an die Oberfläche schwimmt, nach Luft ringt und die geballte Faust in den strahlend blauen Himmel streckt. Es ist vollbracht – die Kündigung ist unterbreitet, fristgerecht und formvollendet. Großes Erstaunen auf der Chef-Seite. Ich muss mich beherrschen, meinen guten Vorsatz, im Guten zu gehen, nicht mitsamt meiner guten Erziehung (danke, Mama, danke, Papa) über Bord zu werfen. Die Blicke meiner noch-Vorgesetzten erinnern mich an meinen Hund, wenn er höchst unerlaubterweise im Garten Löcher auf Jules-Verne-Niveau gebuddelt hatte und wusste, dass er die Schuld diesmal nicht auf das Eichhörnchen würde schieben können.

Mein Ausstieg mag spontan erscheinen, ist allerdings gut vorbereitet. Ich bin vielleicht auf der Zielgeraden in die Midlife-Crisis (Zitat Chef Nr. 1), aber nicht leichtsinnig. Die ganzen letzten Monate hindurch habe ich jeden Cent zur Rücklagenbildung investiert. Dank Corona bekam ich die Anzahlung für gebuchte Urlaube zurück. Als finales Zeichen teilte mir die Bank überraschend mit, dass das Darlehen für meine Wohnung nun getilgt sei. Ich war schuldenfrei und konnte meine Fixkosten auf ein ziemlich bescheidenes Niveau herunterbrechen. Die Würfel sind gefallen – und meine Hemmungen anscheinend auch. Chef Nr. 3 – das Modell „Jung & ambitioniert“ fragt mich immerhin, was ich in Zukunft so machen möchte. „Mir wöchentlich eine Nadel von der Größe eines Döner-Spießes in die Venen rammen lassen, damit ich für Euch keinen Kaffee mehr kochen muss“ – hätte ich gerne geantwortet. „Leben“ sagte ich stattdessen.

© Katja Wilhelm 2021-09-13