von So_Yellow_
Liebe Matrixe,
Deine Antwort macht mir Gänsehaut . Deine Kinder werden in einigen Jahren wissen, was Du ihnen mitgegeben hast. Deine Liebe und Lust aufs Leben. Dein Feuer sehen sie schon von weitem und tragen es in sich. Jedes Wort von Dir löst etwas in mir aus und ich würde am liebsten etwas ganz anderes antworten. Den Vergleich mit der Zugfahrt vergessen. Erinnerungen verdrängen. Die Augen zu machen und es nicht an mich rankommen lassen. Aber uns eint dieselbe Furcht. Ich versuche es, mit anderen Worten zu beschreiben. Meinen Worten.
Vor was ich Angst habe? Vor vielen Dingen: knurrende Hunde machen mir Angst. Von einem Gewitter überrascht zu werden und die einzige Erhebung in der Landschaft zu sein. Im Meer schwimmen, ohne zu wissen, was unter mir lauert. Telefonieren mit fremden Leuten, weil ich Augenkontakt und Mimik brauche. Aber all diese Dinge sind Nichtigkeiten. Sie stören meinen Alltag nicht.
Nur vor einer Sache habe ich wirklich Angst. Schon immer. Trotz schlechten und noch schlechteren Zeiten.
Ich hatte mal eine Operation. Eine Not-Op. ich weiß noch, wie mir ein Eimer Jod über den Körper geschüttet wurde. Es musste schnell gehen. Ich spüre noch die glitschige Kälte. Ich weiß noch, dass ich flüsternd und wimmernd gefragt habe: „Werde ich sterben?“ und die Op-Schwester meinte: „Ich weiß es nicht.“ Da hatte ich Todesangst.
Dann kam die Narkose. Es war in diesem Moment das schönste Gefühl der Welt für mich und noch immer kommt kein anderes Gefühl an dieses heran. Es war wie eine Erlösung. Keine Schmerzen mehr. Keine Gedanken an den Tod mehr. Nichts mehr. Wenn DAS Sterben ist, ist es immerhin schön, dachte ich.
Einige Jahre später ist eine Taube gegen mein Fenster geflogen. Ich bin raus gelaufen und habe sie hoch gehoben. Sie war tot, ihr Kopf hing spannungslos zwischen meinen Händen. Durch ihr zartes Gefieder habe ich noch ihre Wärme gespürt. Wenn DAS Sterben ist, kann es auch schön sein, glaube ich. Aber ist Leben nicht viel schöner?
Davor habe ich Angst: dass ich irgendwann weg sein werde. Nicht vor dem Tod an sich oder vor dem Prozess, der damit einher geht. Nein. Angst habe ich, nicht mehr dabei sein zu können. Keine Wunder mehr zu entdecken. Nicht mehr lachen und weinen zu können. Die Zugfahrt geht weiter und mein Ticket ist abgelaufen. Es gibt für mich dann keinen blauen Himmel mehr, keine duftenden Heckenrosen oder die Erinnerung daran. Stille. Nur noch Stille.
Ich erinnere mich noch an die Taube. Wer noch? Keiner vermutlich. Vielleicht hat sie sich auf das Morgenrot gefreut. Auf ihre Taubenfreunde. Aber sie hat es nicht mehr miterlebt. Sie erlebt gar nichts mehr, für sie ist die große Stille eingetroffen. Und davor fürchte ich mich. Sehr. Es geht so schnell: aus dem Leben gerissen zu werden. Unfälle. Ein allergischer Schock. Zack. Aus und vorbei. Ich bin mir, wie Du, meiner Sterblichkeit bewusst. Vielleicht ist so ein Leben als Taube besser. Vielleicht.
Sag, was willst Du dringend noch erleben?
Tröstend, Deine Mrs_Braunburg
© So_Yellow_ 2020-06-05