Leben. Ein Nachruf.

Rafaela Carmen Scharf

von Rafaela Carmen Scharf

Story

„Ohne Kultur sind unsere Augen nur Lichtsensoren. Ohne Kultur sind unsere Stimmbänder nur Sehnen.“ Aus den U-Bahn-Schächten Wiens schreien aktuell seltsame Plakate. Sie wabern um die Wiener Litfaßsäulen und geistern durch die ausgefegte Innenstadt. Ihre Botschaft ist ein Weckruf, der weiter greift als nur um die Kunst- und Kulturszene. Wer die Plakate liest, während er gerade zufällig von seinem Handy aufblickt, fühlt sich verlegen, fühlt sich ertappt. Waren unsere Sinnesorgane womöglich schon vor Corona verkümmert?

Ich schätze den Reflexionsprozess , dem mich die Kampagne unterwirft. Doch er ist unvollständig, richtet er sich in erster Linie doch an den Kunstnehmenden, nicht an den Kunstgebenden. Der Kunstgebende ist ausgezehrt, ist leer. Für den Kunstgebenden, den Maler, den DJ, den Sänger, den Schriftsteller, den Koch, den Texter, den Künstler ist nichts mehr übrig. Für den schaffenden Menschen müsste die Kampagne eigentlich lauten: „Ohne Leben sind unsere Augen nur Lichtsensoren. Ohne Leben sind unsere Stimmbänder nur Sehnen.“ Was der Künstler braucht, um Kunst zu machen, ist vor allem Intensität. Eine Intensität der Gefühle, des Lebens, die uns aktuell auf allen Ebenen verwehrt wird. Wovon wir zehren können, ist die Vergangenheit, ist die Erinnerung, ein Leben, das schon nicht mehr ist, das schon verblasst. Alles, was wir damit bauen können, ist Melancholie. Eine traurige Kunst, die Schwermut verbreitet. Eine Schwermut, die sich auch durch diese Zeilen presst. Dabei ist es doch das Leichte, das Entrückte, das es jetzt braucht. Der Blick in die Vergangenheit produziert Sehnsüchte und Seufzer; Der Blick in die Gegenwart eine ewige Reproduktion von immer nur Gleichem; Der Blick in die Zukunft, Ungewissheit;

Um wieder Künstler, um wieder Mensch zu sein, bräuchte es mehr Leben, mehr Begegnungen, mehr vom Unerwarteten, mehr Pointen, mehr Wörter wie „Plötzlich“ und „Aufeinmal“, mit denen wir unsere Geschichten ausmalen können. Unsere Welt ist zu einem Kreisel geworden, unsere Augen zu Lichtsensoren. Um etwas zu sehen, müssen wir sie schließen und abrufen, was schon war. Diese Kampagne ist nicht nur ein Aufschrei der Kunst- und Kulturszene, sie ist ein Aufschrei des Menschen. Und was ist der Mensch, wenn nicht eine einzige, tiefe Lebenssehnsucht?

„Lebe tief und heftig“, sagte Camus. Corona hat daraus „Lebe“ gemacht. Wie, davon hat es nichts gesagt.

© Rafaela Carmen Scharf 2021-02-18

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